Jonas schnippte die Kippe herunter in den Mittellandkanal. Eine leichte Böe veränderte noch einmal die Flugkurve bis der Filter auf der Wasseroberfläche aufschlug.
Es gab keinen lauten Knall, keine Wellen, keinen theatralischen Kampf um Leben und Tod.
Die Kippe schwamm einfach auf dem Wasser, würde sich vollsaugen lassen und entweder irgendwann zu Grund tauchen, von einer Ente gefressen werden oder sich auflösen.
Egal welcher Weg für die Überreste der Zigarette auch vorgeschrieben war, es wäre ein leiser und stiller. Aber vor allem würde kein menschliches Augen davon etwas mitbekommen.
Jonas kletterte zurück über das Geländer. Er stand wieder auf dem Fußweg. Niemand hatte ihn gesehen, oder wollte es. Vor fünf Minuten wäre es ihm noch vollkommen gleich gewesen. Doch jetzt wünschte er sich, dass ihn jemand beobachtet hätte. Denn der Brief in seiner Innentasche, ummantelt von einer Klarsichtfolie wog schwer wie Blei.
Ein stützender Arm, beruhigende Worte oder einfach nur ein Blick wären Balsam für seine Seele gewesen.
Niemand kam vorbei. Jonas nahm seine Beine in die Hand und irrte in Richtung Zentrum. Autos belagerten die Straßen, Passanten überfüllten die Fußwege und Hochhäuser verdeckten den Himmel.
Eine Stimme rief seinen Namen. Jonas drehte sich nicht um. Jonas spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war ihm unangenehm.
„Bist du taub?“
„Warum?“
„Weil ich dich bestimmt tausend Mal gerufen habe,“ erklärte der Besitzer der Stimme.
„Tut mir leid.“
„Wo willste hin?“
„Keine Ahnung.“
„Ich will zu H&M. Brauche noch was für Samstag.“
„Schön.“
„Kommste mit?“
„Ne, ich muss in eine andere Richtung.“
„Okay, wir sehen uns.“
Jonas nickte, blieb einen Augenblick stehen und entzündete sich wieder eine Zigarette. Eine junge Frau mit einem Top, auf welchem das Konterfei von Che mit einem Finger als Bart gedruckt war und einen weißen Havaneser an der Leine weckten sein Interesse.
Jonas starrte sie an. Sie sah durch ihn hindurch und war wenigen Minuten später in der Menschenmenge verschwunden.
Jonas bog in eine Seitengasse ab. Vor einer Spielhalle stritten sich zwei Libanesen. Jonas machte einen Bogen.
Der Verkäufer des Briefmarkenladens schloss gerade sein Geschäft ab, während vor dem Supermarkt eine Horde Teenies eine Flasche Sekt und einen Träger Bier öffneten. Jonas wechselte wieder die Straßenseite. Es roch nach Urin. Er war in der Nähe der Bahnhofsmission, die gar nicht am Bahnhof lag, sondern gegenüber von einer Außenstelle der Sparkasse. Jonas öffnete die Glastüren, indem er seine Karte in den Schlitz steckte. Er hob 20 Euro ab.
„Haste mal nen Euro für nen armen Penner,“ wurde Jonas vor der Bank angesprochen.
Jonas ignorierte die Worte. Sein Weg führte ihn weiter vorbei an seiner alten Schule. In der Imbissbude daneben wurde gerade die Kasse gemacht. Es war immer noch die gleiche Verkäuferin wie vor 10 Jahren und der gleiche Chef. Beide dick, verlebt und wurstig.
Eine Straße weiter tönte Schlagermusik aus einer Spielunke. Jonas schaute hinein. Er setzte sich an den Tresen, bestellte sich ein Bier und als er bemerkte, hier rauchen zu dürfen, zog er eine Marlboro aus der Schachtel.
Vor einem Automaten saß ein heruntergekommener Kerl Ende 50. Auf der Tanzfläche bewegten sich zwei alte Schachteln zu einem Song von Wendler. Jonas zog sein Bier in einem Zug weg. Die Bedienung an der Theke mit den dicken Brüste stellte ihm ein Neues vor. Auch das hielt nicht lange und ein nächstes folgte.
„Na, was verschlägt denn so ein Leckerchen hier her?“
Jonas drehte sich der verrauchten Stimme entgegen. Sie klang wie ein bremsender Zug. Es war eine Frau Anfang 40, eine fürchterliche Kurzhaarfrisur, mit einer übertriebenen roten Tönung, die Zähne standen auseinander, die Lippen waren überzogen mit Lippenstift, der Bauchansatz drückte durch das Oberteil und die Kombination aus Stiefeln und Minirock ließen sie wie eine Hure kurz vor dem Ruhestand erscheinen.
„Ich habe keine Kohle zum Ficken,“ stieß Jonas aus und zog das nächste Bier weg.
„Nicht frech werden,“ sagte die Alte und nahm neben Jonas Platz.
„Yvonne, machste für mich und den jungen Hengst hier mal zwei Jägermeister,“ meinte die Alte und prompt standen zwei braune Schnäpse vor Jonas und der Alten. Es sah aus wie das Wasser des Mittellandkanals.
„Ich will einfach nur gefickt werden. Und so einen geilen Bock wie dich, hatte ich schon seit Jahren nicht mehr.“
Jonas zog den Schnaps weg. Er schüttelte sich kurz. Die Alte machte es ihm nach und legte ihre Hand mit den künstlichen Fingernägeln auf sein Bein ganz in die Nähe seines Schwanzes.
„Ich bin Angie. Yvonne, noch zwei.“
Schon waren zwei weitere Jägermeister auf dem Tresen. Angie schaute Jonas an. Ihr Blick wanderte von oben bis nach unten. Es war eine Fleischbeschauung. An der Mitte seiner Jacke blieben ihre Augen kleben. Der Brief in Klarsichtfolie schaute heraus. Angie griff fest in Jonas Bein.
„Das Schreiben kommt mir bekannt vor. So etwas habe ich auch mal mit herumgeschleppt. Hab es auch nicht übers Herz gebracht, glaube ich zumindest.“
„Wie du meinst,“ quälte sich Jonas über seine Lippen.
„Brauchst auch gar nicht viel reden. Kommt dir bestimmt alles wie die Hölle vor. So erging es mir auch.“
„Okay.“
„Lass uns austrinken. Ich wohne nur zwei Blocks entfernt. Ein schöner Arschfick wird dich schon auf andere Gedanken bringen.“
Jonas willigte ein. Ihre Argumente waren überzeugend. Es musste wirklich die Hölle sein.