Immer die Anderen
„Wenn das mal lange hält,“ mahnt Stefanie. Die muss immer mahnen. Die muss immer alles schwarz sehen. Wird auch immer schlimmer. Da hatte ich vor 10 Jahren noch Hoffnung. Aber jetzt? Vor 10 Jahren gab es auch noch Hoffnung für mich. Da gab es diese Elena. Diese kleine süße Blondine. So ne freche, die frisch nach der Uni bei uns anfing. Die wollte mich. Die sah fabelhaft aus. Wäre so eine zum Angeben gewesen. Und für Spaß. Und für Liebe.
Aber ich habe mich nicht auf die eingelassen. Wegen Stefanie. Und wegen Noah. Den konnte ich mit der ja nicht allein lassen. Oder ich mich allein um den kümmern. Und so habe ich mich halt entschieden. Muss man ja. Immer entscheiden. Und meistens ist es die falsche Entscheidung.
„Ich meine ja. Das ist jetzt der wievielte nach Fin? Mit dem war alles gut. Der hat sie geliebt. Und meine Güte, dann hat er sie einmal betrogen. Einmal. Einen Ausrutscher.“
„Könnte ich auch nicht,“ sage ich. Und es ist still im Auto. Stefanie drückt was auf dem Display. Was von Oasis läuft.
„Echt?“ will sie wissen.
„Echt.“
„Aber ist doch nur Sex. Und einmal kann passieren.“
„Sex passiert nicht,“ stelle ich klar. Wir schweigen wieder. Es ist so ein unsicheres Schweigen. Ein Schweigen, welches Krieg andeutet. So nen richtigen Vernichtungskrieg, wo niemand gewinnen kann. Vor allem aber die Würde von allen Beteiligten verliert.
Liam Gallagher brüllt ins Mikro und schubst meine Gedanken um. Dieser Coach auf Arbeit zur Bewältigung von Konflikten hat letzte Woche im Seminar gesagt, dass man immer alles gleich ansprechen soll, was einem Bauchgrummeln bereitet. Im Beruflichen und im Privaten. Und gerade habe ich Bauchgrummeln. So richtiges. Und nicht, weil ich mal muss.
„Nicht unser Leben,“ spreche ich Stefanie nicht an. Sie nimmt meine Hand. Das fühlt sich nicht gut an. Irgendwie so verlogen.
„Hat es dir geschmeckt?“ fragt sie.
„War etwas angebrannt.“
„Ja, da hat sie sich schön vertan. Bestimmt wieder Wein getrunken. Die war ja schon angetrunken als wir kamen,“ meint Stefanie. Sie lästert so gern. Lästern ist ein Kit in all ihren Beziehungen. Und sie lästert auch über mich. Kratzt mich nicht mehr.
„Was hat unser Sohn heute vor?“ wechsele ich das Thema. Ich überhole nen Golf. Da sitzt so ein Opa drin. Muss der um 22 Uhr noch auf der Straße sein?
„Party.“
„Immer Party.“
„Warst du in seinem Alter anders?“
War ich nicht. Wir sind auch von einem Dorffest aufs nächste gefahren. Könnte trotzdem mal wieder was mit mir machen. Wenigstens Fußball schauen.
„Und bei wem fährt der mit?“ will ich wissen.
„Lucas hat jetzt nen Führerschein.“
„Hoffentlich fährt der vorsichtig.“
„Wenn unser Noah mal einen hat. Dauert nicht mehr lang. Dann sitze ich als ganz stolze Mama daneben. Wird super,“ meint Stefanie. Die freut sich gerade richtig. Grinst über beide Ohren.
Vor uns hat ein Auto auf der Landstraße gehalten. Warnlicht an. Ich fahre langsam heran. Ich mache auch das Warnlicht an.
„Warte hier,“ meine ich zu Stefanie. Ich steige aus. Die Nacht ist von orangen Licht durchflutet.
„Hilfe,“ brüllt da jemand. Das kommt vom Feld neben der Straße.
„Ich komme.“
Ich springe über nen Graben. Dann sehe ich es. Da liegt ein Wagen auf dem Feld. Umgedreht. Eingebeult. Marke nicht identifizierbar.
„Ich kriege die Tür nicht auf,“ sagt jemand. Der zieht am Auto. An der Beifahrertür.
„Habe Sie den Notruf gerufen?“ will ich wissen.
„Ja, aber wir müssen die da rausholen.“
„Ich eile zum Mann. Ich ziehe mit. Dann sehe ich hinein. Dann sehe ich den Beifahrer. Der ist voller Blut. Der ist mit nem offenen Kopf. Der ist so leblos. Der ist Noah.
Und ich gehe zurück. Und ich stolpere. Und von weitem sehe ich blaues Licht. So ganz viel blaues Licht. Und ich höre Sirenen.
Ich stolpere durch den Graben. Ich will zu unserem Auto. Ich will zu Stefanie. Aber dann doch nicht. Dann zu Noah. Ich muss den Jungen retten. Ich renne. Ich brülle Noahs Namen. Ich rüttele an der Beifahrertür. Irgendwer zieht mich weg.
Was ist Wir?
Die redet nur über sich. Über die Arbeit. Über den Neuen. Über so ein Restaurant, was in der Stadt geöffnet hat. Das frisst mich auf. Das macht mich platt.
„Und wie geht’s Christian?“ will sie wissen.
Wie soll es dem schon gehen? Wie soll es mir schon gehen? Wir sind Eltern, deren Kind nur noch so daliegt. Nichts mehr kann. Nichts mehr will, weil es nichts mehr äußern kann. Also nichts Vernünftiges mehr. Oder etwas mit Perspektive. Der starrt ja nur noch. Der hat sein Leben schon zu Ende gelebt. Da kommt nichts mehr. Keine Ausbildung. Keine eigene Wohnung. Keine Frau. Kein Kind.
Und ich? Bin ich damit auch am Ende? Keine Oma? Sollte nicht jede Frau mal Oma werden? Bin ich deshalb keine Frau?
„Ist nicht einfach,“ antworte ich Kerstin
„Glaube ich. Ihr tut mir so leid,“ meint Kerstin. Die berührt meine Schulter. Ich würde ihr am liebsten den Arm auskugeln. Die verletzen. Die und ihre so heile Welt. Die mit ihren Problemen mit anderen Kerlen.
„Und was macht Hanna?“ frage ich. Ich weiß, dass mich die Antworten schmerzen wird.
„Der geht’s blendet. Die sucht gerade nach nem Studienplatz. Will unbedingt nach Berlin. Wollen die ja alle hin. Da ist ja was los. Nicht so wie hier. Was wohl wäre, wenn wir damals auch gegangen wären?“ fragt sie mich.
„Gute Frage,“ antworte ich. Und ich sehe mich. Ich wäre nicht nach Berlin. Ich wäre nach Hamburg. War schon immer meine Stadt. Habe das da immer geliebt. Der Hafen. Feiern auf der Reeperbahn. Fischmarkt. Ob ich Hamburg jemals wiedersehen werde?
„Ich muss dann mal los. Noch zur Apotheke,“ meine ich. Dann stehe ich auf. Den Rest Kaffee lasse ich in der Tasse. Kerstin steht auch auf. Die umarmt mich. Zu lange. Das erdrückt mich.
„Und du weißt ja, ich bin immer für dich da. Ruf an und sofort stehe ich vor deiner Tür. Egal wann,“ meint Kerstin.
„Ich weiß,“ weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was auf uns zukommen wird. Ich weiß generell nur, dass alles anders ist als gedacht. Damit rechnet doch niemand.
Ich halte vor der Apotheke. Ich streichle übers Lenkrad. Ich verfluche die Technik, die meinen Sohn zum Krüppel gemacht hat. Ich gebe den Autos die Schuld. Keine Autos, keinen behinderten Sohn. Irgendjemanden muss ich ja die Schuld geben. Dem Lucas kann ich es ja nicht. Der liegt unter der Erde. Der war gleich tot. Der soll zu schnell gefahren sein. Dann hat der die Kontrolle verloren. Passiert so vielen bei uns. Immer wieder tote, junge Menschen bei Verkehrsunfällen.
Jemand klopft gegen die Scheibe. Es ist Martina. Mit der bin ich auch mal zur Schule gegangen. Ich steige aus.
„Ach Stefanie, meine Arme,“ sagt die zu mir. Und wieder so eine ungebetene Umarmung. Die nimmt mir die Luft.
„Es tut mir so leid. Aber das wird schon,“ wirft sie mir entgegen.
Da wird nichts mehr. Das haben auch die Ärzte gesagt. Die Verletzungen am Kopf haben Noah Matsch gemacht. Keine Sprache. Keine Bewegung. Die sind sich sogar unsicher, ob er was wahrnimmt.
„Danke. Ich muss schnell da rein und dann nach Hause,“ meine ich. Und dann bin ich schon in der Apotheke. Die kennen mich da jetzt. Die geben mir gleich ne Tüte mit Medikamenten. Für mich sind auch Tabletten dabei. Welche, die beruhigen.
Wieder zu hause. Ich atmete tief ein und aus. Dann öffne ich die Tür. Im Flur höre ich Christian. Der heult Rotz und Wasser. Der sitzt bei Noah am Bett. Ich lege meine Hand auf Christians Schulter. Der schaut mich an. So lange. So furchtbar verzweifelt. Er steht auf.
„Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht. Es tut mir leid,“ meint der. Er steht auf. Er verlässt den Raum.
Ich verstehe das. Wer kann das schon. Aber wir sind Noahs Eltern. Wir müssen das. Wir haben keine andere Wahl. Es bleibt uns nichts anderes übrig.
Ich höre die Tür ins Schloss fallen und dann unseren Wagen wegfahren. Christian braucht Abstand. Der braucht Zeit. Ist okay.
Ich sehe mir Noah an. Wie er an die Decke starrt. Wie hilflos. Irgendwie wie ein Baby. Wie mein Baby. Ich streichle über seine Wange. Er ist so warm. Er glänzt so. Seine Haut ist so makellos. Ich küsse ihn. Ich lege mich zu ihm ans Bett. Vorsichtig presse ich mich an ihn. Nicht den Schlauch zur Magensonde berühren. Oder den Katheter. Ich bin müde. Ich schlafe ein.
Es klingelt an der Tür. Es ist finster. Wie lange habe ich geschlafen?
„Christian?“ rufe ich. Aber der antwortet nicht. Es klingelt noch einmal. Ich habe Angst. Es ist dunkel. Es ist spät.
Dann gehe ich zur Tür. Ich öffne. Zwei Polizistinnen.
„Frau Huber?“ will eine wissen.
„Ja,“ sage ich.
„Es geht um ihren Mann. Um Christian Huber,“ meint die Polizistin.
Ich lasse die herein. Auch wenn ich weiß, was die mir sagen wollen. Ich hatte so ne Ahnung. Wir sind nicht mehr.
Es zerfällt zu es
„Ja, und da habe ich mich immatrikuliert. Was für ein Wort. Das kannte ich vor ein paar Wochen nicht. Die bereiten uns echt beschissen vor. Und wenn du dann noch solche Eltern hast wie wir…,“ quatscht Vincent und unterbricht abrupt. Das bestärkt meine Vermutung. Papa ist etwas passiert. Oder Papa hat sich etwas angetan. Oder Papa hat es nicht ausgehalten. Ich vermisse Papa. Ich denke oft an Papa. Ich denke oft an damals. Eigentlich denke ich immer an damals. Was bleibt mir auch anderes übrig? Mein Jetzt ist so erbärmlich. Ich kann nichts. Ich kann nur an damals denken. Das Jetzt erdrückt mich.
„Und in drei Wochen geht’s dann los. Dann geht’s nach London. Das wird so stark. Bedeutet aber auch, dass ich dann nicht mehr jeden Monat vorbeikomme. Aber ich werde dir alles erzählen. Immer wenn ich zurück bin, werde ich dir alles bis ins kleinste Detail erzählen, sodass du es dir genau vorstellen kannst. Also, mach es gut. Bleib tapfer,“ meint Vincent. Dann drückt der meine Hand. Das spüre ich ganz schwach.
„Bleib doch noch,“ sagt meine Mama.
„Aber Frau Huber,“ meint Vincent.
„Sag Steffi.“
„Aber…“
„Kein Aber. Der wird schon hart.“
„Aber Noah.“
„Der kriegt davon nichts mit.“
Die beiden verlassen mein Zimmer. Ich kann die beiden hören. Meine Mama stöhnt. Meine Mama schreit Vincents Namen.
Ich will auch schreien. Ich will aufstehen. Was erlauben die sich. Wo ist Papa? Die treiben es. Und ich kann nichts unternehmen. Meine Mama macht es mit meinem besten Freund. Meinem einzigen Freund. Lucas ist tot und Vincent hat es fast unverletzt überlebt. Und ich? Ich bin ein Spast. Ich liege hier nur rum. Ich kann noch nicht mal was dagegen unternehmen, dass die beiden ficken. Ich will heulen. Ich kann es nicht.
Irgendwann hört das Gestöhne auf. Dann kommt die Dunkelheit. Und die Stille. Die ist noch schlimmer. Weil ich nicht mehr weiß, was ich denken soll. Weil ich an dieser verdammten Decke nichts Neues erkennen. Weil ich die auswendig kenne. Weil es da nichts anderes gibt. Nie mehr.
Die Tür geht auf.
„Hast dir wieder eingeschissen,“ meint meine Mama. Die riecht nach billigem Wodka. Das macht die jetzt öfters. Dann ist die grob zu mir. Ist sie jetzt auch. Die dreht mich zur Seite.
„Dafür habe ich deinen Vincent gefickt. So richtig. Und der mich.“
Ich will eine Faust ballen. Ich will etwas sagen. Aber ich kann weder das eine, noch das andere.
„Da fehlen dir die Worte, wa? Die sind dir ausgegangen. Den ganzen Tag liegst du rum, kackst dir ein und dann kannst du nicht einmal etwas dazu sagen.“
Mama ist so richtig wütend. Und ich auch. Aber die Wut schwindet. Ich fühle mich so schuldig. Ich bin purer Ballast.
„In den Arsch hat der mich gefickt. Durfte dein Vater nie. Und das war geil. So richtig.“
Ich will nach Papa fragen. Ich will mich entschuldigen. Ich will Mama in den Arm nehmen.
Dann weint Mama. So richtig laut.
„Ich kann es nicht machen wie dein Arsch von Vater. Ich kann hier nicht raus. Auch wenn ich es wollte. Ich kann mich nicht umbringen und dich allein lassen. Und dich kann ich auch nicht töten. Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht. Es tut mir so leid,“ sagt sie. Sie küsst mich auf die Stirn. Dann verschwindet sie. Sie macht das Licht aus. Ich höre ihr Gewimmer durchs ganze Haus. Es frisst mich auf. Es frisst mich alles auf. Ich kann nichts ändern. Ich muss es ertragen. Ich. Was ist ich? Was bin ich? Ich bin nicht mehr.