Er liegt da, so wehrlos und hilflos wie ein Kind.

Nein, nicht wie ein Kind. Ein Kind ist menschlich. Menschlicher als alles andere.

Aber er ist nicht einmal er selbst. Als Menschen kennzeichnet ihn nur noch sein Körper. Eine Hülle, die einmal verriet, dass er vor etlicher Zeit vor Kraft strotzte, in den Wäldern Holz fällte, eine Frau zum Höhepunkt schaukelte. Aber was ist schon Mensch?

Jetzt ist er ruhig, seine Atmung flach und langsam, fast rhythmisch. Aber so viel steht fest: In wenigen Minuten wird das Wimmern und Jammern von Neuem starten. Ein quälendes Gewirr aus Lauten wie Nein, Aua oder Owei, die zu einer unerträglichen Lautstärke emporsteigen wie die furchtbaren Sirenen, die den Bombenhagel prophezeien.

Die nächsten Schritte sind für mich Routine wie das Exerzieren auf dem Kasernenhof. Das Melperon wird vermischt mit etwas Wasser, serviert in einem Schnapsglas mit einem leichten Goldrand. Als Erinnerung an den Korn, den er immer mit Onkel Friedrich zu Geburtstagen trank.

Damals, als seine Frau noch lebte, die Welt in Ordnung erschien, das Gestern vergessen war und der Morgen noch in weiter Ferne verborgen blieb.

Die Gegenwart ist heute, heute zählt nur noch, das Beruhigungsmittel die Kehle herunterlaufen zu lassen, damit der Schmerz wenigstens etwas gelindert wird.

Aber was weiß ich schon von Schmerz? Rein gar nichts. Ich bin jung. Das Schlimmste steht mir erst bevor.

Auch heute, denn die Lippen von ihm sind verschlossen wie der Tresor einer Bank.

„Das wird helfen. Du musst nur den Mund öffnen“, sage ich mit einer vorgetäuschten Ruhe.

Die Lippen öffnen sich tatsächlich, die falschen und von den Medikamenten angegriffenen Zähne präsentieren sich mir wie die Beißer eines Tigers, bevor er sie gewaltsam in seine Beute presst.

„Nein, Neiiiiin, Neiiiiiiiiiiiin!“ dröhnt es in mein Ohr. Die hängende Haut an den Oberarmen beginnt zu zittern. Die muskellosen Arme revoltieren wie die Franzosen beim Sturm auf die Bastille.

„Doch, doch, doch,“ antworte ich erregt. Aber die Schlacht habe ich verloren. Wieder wird mir mit einer heftigen Salve an Neins geantwortet, die in meinem Schädel einschlagen und die Vernunft schwer verletzen. Mein Körper verlangt nach Nikotin oder er treibt mich dazu, jemandem die Fresse einzuschlagen. Also ziehe ich mich zurück wie ein geschlagener Hund, ergeben, entwürdigt und beleidigt. Die Tür schließt sich hinter mir und aus dem Zimmer vernehme ich ein wütendes Gebell. Schimpfwörter, die keinen Sinn ergeben, aggressive Laute und das Rattern des Bettes, das gegen die Angriffe standhalten muss wie ein ungeschütztes Containerschiff gegen die aufgerüstete Luftwaffe.

Auf der Terrasse halte ich ein. Der kühle Herbstwind peitscht mir ins Gesicht, das Feuerzeug erlischt immer wieder. Dann endlich glüht der Tabak. Das Gift macht sich in mir breit, sorgt für einen kurzen Anflug von Glück. Doch hinter mir verlangt die Hölle ihre Aufmerksamkeit zurück. Erbarmungslos werde ich zurückgezogen, in einen Schlund aus Sinnlosigkeit, Ungerechtigkeit und Tod. Nein. Aus Leben.

Aus „Angefaulte Wurzeln“ ein unveröffentlichter Kurzroman von Timo Quante