Ich stolpere aus dem Büro. Mein Körper sehnt sich nach frischer Luft. Ich falle fast das Treppenhaus herunter. Dann bin ich vor der Tür. Ich atme schwer. Ich hechle. Jemand fasst mich an.
„Alles gut?“ werde ich gefragt.
„Ja, ja, alles gut,“ murmele ich. Dann taumele ich vom Parkplatz. Die Straße entlang. Ich schnappe nach Luft. Ich japse. Ich lande irgendwie vorm kleinen Bahnhof. 8 Gleise. Mehr nicht. Es ist Mittag. Der Bahnhof ist wie ausgestorben.
Ich versuche mich auf etwas zu fokussieren. Ich lese die Zeiten des Zuges zwischen Gifhorn und Wolfsburg. Zwischen Gifhorn und Braunschweig. Zwischen Gifhorn und… Die Zeiten haben sich geändert. Nach 20 Jahren haben sich die Abfahrtzeiten geändert. 24 Minuten. 24 Minuten im Vergleich zur Zeit als ich studiert habe. Im Vergleich zu vor drei Jahren als ich meinen Lappen wegen Alkohol abgeben musste.
„Seit wann sind die Zeiten anders?“ frage ich erstaunt eine Passantin.
„Die sind schon immer so,“ behauptet sie und wendet sich von mir ab wie von einem Verrückten. Verrückt. So fühle ich mich. Als wäre alles irgendwie und irgendwohin verrückt und verschoben.
Entweder habe ich den Verstand verloren oder die Welt gerät aus den Fugen. Die Wirklichkeit gerät durcheinander oder ist es bereits.
Oder bin ich auf Drogen hängen geblieben? Ein Aneurysma? Ein Tumor. Ich habe Angst. Ich atme wieder schnell. Dann wird alles schwarz.
Etwas ist auf meinem Kopf. Ich rieche Plastik. Ich werde gezogen. Ich werde geschliffen. Ich wehre mich nicht. Ich lasse es geschehen.
„Hahahaha,“ höre ich. Man fesselt mir die Arme. Auch an den Beinen werden ich zusammengebunden. Ich kann mich nicht wehren. Ich fühle mich geschwächt. Als hätte man mir die Energie aus dem ganzen Körper gezogen.
„Ein feiner Pinkel,“ höre ich einen Mann reden. Er spricht versoffen. Er zieht mir die Tüte vom Kopf. Ich rieche Luft. Ich rieche muffigen Menschen. Er ist ungewaschen. Er tätschelt meine Wange. Seine Hände sind ungewaschen. Ich spüre Pickel in meinem Gesicht sprießen wie Pilze aus dem Boden.
„Was soll das?“ will ich wissen.
„Klappe halten. Hier spreche ich. Du nur, wenn ich gefragt habe,“ sagt er.
Er durchwühlt meine Tasche. Er findet mein Smartphone.
„Das brauchst du nicht. Keine Telefonjoker,“ sagt er. Er macht es aus. Er steckt es mir zurück in das Sakko.
Er findet mein Portmonee. Er schnappt sich die Scheine. Er steckt sie sich in die Tasche. Er schüttet sich mein Kleingeld in die Hand. Er schüttelt meine Geldbörse. Er will jeden Cent. Ich bin ausgeraubt.
„Ich bin kein Räuber. Ich habe nur keine Kohle. Wir wollen doch etwas trinken, nicht?“ sagt er. Er grinst mich überlegen an. Er genießt meine Machtlosigkeit. Meine Ahnungslosigkeit.
„Ich hole uns dann mal was,“ sagt der Typ. Er winkt mir zu. Ich höre sein Lachen.
Er ist außer Sichtweite. Ich bemerke, dass ich an einen Stuhl gefesselt bin. Ich bewege mich. Ich versuche zu springen. Der Stuhl bewegt sich. Ich falle um. Ich liege am Boden. Unfähig zu irgendeiner Bewegung.
Die Gefühle überkommen mich. Ich muss heulen. Tränen laufen aus meinen Augen. Ist das hier Wirklichkeit? Bilde ich es mir ein? Oder bin ich tatsächlich von einem Verrückten gekidnappt?
Ich will zu Kristina. Ich will zu Mara. Ihr seid meine Wahrheit.
…
„Fernsehprogramm,“ höre ich jemanden sagen.
„Glotze, Hauptdarsteller. Hey Hauptdarsteller,“ höre ich eine andere Stimme.
Ich öffne die Augen. Vor mir steht eine Horde von Männern. Alle ungepflegt. Alle mit versoffenen Augen, Nasen, Gesichtern. Ihre Häute ledern. Ihre Kleidung abgetragen. Alles Penner. Alles Obdachlose.
„Wir haben kein Instagramm und keine Glotze,“ sagt jemand mit milchigen Augen zu mir. Ich verstehe nicht, was ich darauf antworten soll.
„Noch so still,“ sagt jemand anderes. Ich kann sie nicht zuordnen. Sie sehen für mich alle gleich aus.
„Mal schauen, was jetzt passiert,“ meint einer.
Er geht auf mich zu. Ich rieche ihn. Pisse, Fusel, Modder. Er bindet mich los. Erst an den Beinen. Dann die Arme. Soll ich mich wehren? Ich entscheide mich für die Wand. Ich stelle mich an die kalte Mauer. Sie ist feucht. Der Raum ist nicht beheizt. Wo bin ich hier überhaupt?
„Ein Feigling,“ stellt jemand fest. Die anderen lachen. Sie stimmen zu einem Lied ein. Ich verstehe nur Fetzen. Etwas mit Mami, in die Hosen machen, keine Eier haben. Sie machen sich über mich lustig.
„Runter, zehn Liegestütze,“ fordert jemand.
„Was?“ verstehe ich nicht.
„Du hast mich schon richtig verstanden,“ höre ich.
„Und schnell. Oder ich lass meinen Saft in dich rein,“ droht jemand anderes. Das hat gesessen.
Unter Gelächter gehe ich auf den Boden. Stemme mich 10mal nach oben. Die Penner zählen mit. Bei 10 schreien sie alle auf. Sie jubeln. Sie nippen aus ihren Flaschen. Es riecht nach billigem Alkohol.
„Ausziehen,“ fordert jemand.
„Und das hier anziehen,“ fügt jemand anderes hinzu. Sie werfen mir orangene Kleidung entgegen. Eine dicke Jacke und eine Hose. Ich gehorche. Dann sehe ich aus wie von der Müllabfuhr. Ich fühle mich wie Abfall.
„Jetzt finden wir dich wieder,“ sagt jemand. Alle lachen. Ich werde mit Dreck beworfen. Ich werde getroffen. Am Körper. Am Gesicht.
„Verreiben. Vor allem in der Fresse,“ fordert jemand. Ich gehorche. Ich verteile den Schmutz auf meiner Wange.
„Jetzt siehst du aus wie einer von uns,“ fügt ein anderer hinzu.
„Aber bist keiner,“ sagt ein anderer. Alle lachen.
„Wir machen jetzt ein paar Spiele. Danach schauen wir weiter,“ erklärt mir jemand.
„Du solltest nicht verlieren,“ meint wieder jemand.
Dann tuscheln sie alle. Sie scheinen auf mich oder gegen mich zu wetten. Sie bilden zwei Lager.
„Wir fangen langsam an. Du hast bestimmt Hunger?“ fragt und erklärt jemand zu gleich.
Ich nicke.
„Ist er taub?“ will jemand wissen.
„Bist du taub?“ fragt mich jemand direkt vor mir.
„Nein,“ sage ich unentschlossen. Ich hätte lieber geschwiegen.
„Gut, dann probiere das,“ sagen sie. Sie stellen mir Obst und Gemüse vor. Es ist pampig. Es ist angefault. Ich übergebe mich fast beim Geruch.
„Erst den Apfel,“ fordert man.
„Aber…,“ stammele ich.
„Kein Aber. Aufessen,“ rät man.
Ich gehorche. Ich schmecke das Faule. Ich orientiere mich an der Süße. Ich verliere sie. Ich würge. Jemand hält mir den Mund zu.
„Schön schlucken. Sonst schluckst du was anderes,“ sagt er.
Ich schlucke den Apfel. Ich reiße den Mund auf. Alle sehen, dass er leer ist.
„Der hat noch Zähne,“ stellt jemand anderes fest. Alle lachen. Dann trinken sie wieder.
In meinem Magen grummelt es.
„Jetzt die Gurke,“ meint einer. Man gibt mir die Gurke. Sie zerfließt fasst in meiner Hand. Sie schmeckt ranzig. Aber nicht so schlecht wie der Apfel.
„Das war lecker,“ behauptet jemand. Alle lachen. Alle trinken wieder.
„Und jetzt die Trauben,“ fordert jemand.
Sie stellen mir eine Plastikpackung vor die Nase. Darin die Trauben. Von Schimmel überzogen. Verflüssigt.
„Sieht aus wie Wein,“ sagt jemand. Alle lachen wieder.
„Eine nach der anderen,“ fordert jemand.
Ich stecke die erste in meinem Mund. So muss der Tod schmecken. Ich würge. Bringe es aber runter.
„Die zweite, die zweite,“ brüllen sie.
Augen zu und durch. Ich schlucke die Traube ganz. Eine gute Technik.
Die dritte schlucke ich auch ganz. Es stoppt in einem Hals. Blockade. Ich kriege keine Luft.
„Gibt ihm den Saft,“ meint jemand.
Sie halten mir billigen Wein entgegen. Ich schütte ihn die Kehle runter. Die Trauben rutschen. Der Wein ballert gleich. Er ist gestreckt mit Billigschnaps.
„Jetzt fühlst du dich wie einer von uns,“ behauptet jemand. Alle lachen.
„Die nächste, die nächste,“ grölen sie.
Ich bin angetrunken. Ich nehme mir die nächste. Diesmal beiße ich drauf. Faul. Schnell geschluckt. Die Flasche Wein steht noch neben mir. Ich nehme mir einen Schluck.
„Er lernt,“ sagt jemand. Wieder Lachen.
Die nächste Traube. Sie brauchen mich nicht erinnern. Es grummelt in meinem Bauch. Ich halte.
„Es geht los,“ stellt jemand fest. Alle lachen.
Ich weiß noch nicht, was sie meinen. Ich esse die nächste Traube. Wieder Fäulnis. Wieder den Wein mit Schnaps. Wieder drücken im Bauch. Blubbern. Etwas will raus. Oben? Unten?
„Das Essen nicht vergessen,“ meint jemand.
Warum gehorche ich überhaupt? Würden sie mich töten? Mich vergewaltigen? Was wollen sie von mir? Warum will ich leben? Was macht mein Leben aus?
Mara. Ganz klar Mara. Und Kristina.
Ich kann es nicht mehr halten. Es läuft aus mir heraus. Ich kotze im Strahl. Alles vor mir auf den Boden. Dann spüre ich es hinten. Es läuft aus meinem Arsch. Ich kacke mir ein. Es ist feucht. Es ist flüssig. Es ist Dünnschiss.
„Yeah,“ grölen die Penner. Sie stoßen an. Sie feiern meine Erniedrigung.
Ich muss wieder. Diesmal andersherum. Erst der Schiss. Dann die Kotze. Ich kippe einfach um. Bei Bewusstsein. Schwach. Ausgesogen. Ausgelaugt. Leer.
„Trink das,“ meint jemand. Sie halten mir etwas entgegen. Es riecht nach Kaffee. Es ist ein Brei mit Kaffee Geschmack und Anis. Wieder Schnaps dabei. Diesmal wohltuend. Die Penner wissen alles von Schnaps. Mein Körper fühlt sich schlagartig besser. Ein Wunder.
„Ausziehen,“ fordern sie wieder. Ich handele gleich. Ich will mich von meiner Scheiße befreien. Ich sehe mich angeschissen. Der flüssige Kot läuft meine Beine entlang. Sie lachen mich aus.
„Jetzt könnte er wirklich einer von uns sein,“ brüllen sie vor Lachen. Dann trinken sie wieder.
Ich stehe nackt da. Wann war ich schon einmal so nackt? So schwach? So hilflos?
Sie kommen mit Eimern. Sie überschütten mich. Ich weiß nicht wie oft. Die Kacke läuft weg. Die Kacke ist von meinem Körper. Das Wasser ist kalt. Ich färbe mich bläulich.
Sie werfen mir einen Lumpen entgegen. Ich trockne mich ab. Sie schmeißen mir Kleidung entgegen. Ich ziehe sie an. Sie riecht alt. Sie riecht getragen. Sie wärmt mich.
„Warum sollten wir dich nicht fressen?“ sagt jemand. Er zückt ein Messer.
„Was?“ stottere ich. Ich habe wieder Angst.
„Wir fressen dich lebend auf. Du kannst zusehen, wie wir dich kochen,“ meint jemand. Er leckt sich die Lippen.
„Was?“ stottere ich. Ich begreife das Gesagte. Kann aber nicht darauf antworten. Darauf wurde ich nie geschult. Dafür gab es kein Seminar.
„Antworte! Warum sollen wir dich nicht fressen? Oder wir machen es,“ schreit jemand.
„Mara,“ brülle ich.
„Mara?“ will jemand wissen.
„Meine Tochter,“ fällt mir aus dem Mund. Schon bereue ich es. Die Penner haben meinen Ausweis. Sie wissen, wo ich wohne. Sie wissen, wo Mara wohnt. Ich traue ihnen alles zu.
„Lasst Mara. Bitte lasst Mara in Ruhe,“ flehe ich. Ich heule. Ich weine. Ich kann es nicht halten.
„Fresst mich. Fickt mich, aber lasst Mara,“ wimmere ich. Ich knie mich nieder. Meine Beine werden feucht von der Pfütze. Meine Augen sind es von den Tränen.
Stille. Kein Lachen. Kein Anstoßen. Kein Wort.
Jemand geht auf mich zu. Jemand zieht mich zu sich hoch. Jemand drückt mich an sich.
„Jetzt bist du einer von uns. Ein Mensch,“ sagt der Jemand.