Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheibe. Draußen bogen sich die Bäume mit dem Wind. Fahnen des Einkaufszentrum flatterten erregt umher. Die Gullydeckel verschluckten sich an den unüblichen Wassermengen und die kleinen Grünflächen schafften es nicht, die Regenmassen in ihren verdorrten Untergrund aufzunehmen. Das Unwetter ließ lange auf sich warten. Die letzten Tagen waren von schwitzendem Fleisch, erschöpfter Trägheit und übertriebenen Wasserkonsum bestimmt.

Doch wie auf Regen Sonnenschein folgt, verläuft es auch andersherum. Eine immer wiederkehrende Abfolge, wusste Leon. Seine leeren Gedanken füllten sich mit den Bildern auf der Straße, strebten nach Beschäftigung, aber weder eine ältere Dame, die ihrem Regenschirm nacheilte, noch die nach einem Unterschlupf suchende Katze verhalfen dazu.

Nur die Schornsteine der großen Industrieanlage wollte in Verbindung mit Leons Bewusstsein treten. Doch sich mit der industriellen Architektur zu befassen, war Leon genauso leid wie sich vom Fenster abzuwenden. Dennoch grübelte er über den Besitzer der massiven und hässlichen Bauten nach. Wobei er immerfort auf sich selbst zurück fiel. Denn sein Arbeitsplatz lag genau auf dem gleichen Grund und Boden wie der, der vier dampfenden und rauchenden Schornsteine, die dem harten Regenschauer trotzten und weiter Qualm und Abgase in die Atmosphäre schleuderten.

Versuchte er sich an seine Tätigkeit zu erinnern, fielen ihm nur die unendlichen Personalnummern ein, die ständig überprüft, geordnet oder neu verteilt werden mussten. Eine wenig geistreiche Beschäftigung. Stupides Verwalten, wusste Leon und drehte sich vom Fenster weg.

Aber der lange und festgebundene Strick am Balken seiner kleinen Zweizimmerwohnung war weder ermutigender als die Schornsteine, noch verhalf es Leon, sich auf angenehmere Gedanken zu bringen. Das Stück Seil baumelte von einer Brise angestoßen umher wie Schunkelnde auf dem jährlichen Schützenfest, schien dabei die Freude an der Verhöhnung zu finden, hielt nicht still und verspottete Leon mit jeder weiteren Bewegung.

Leon senkte demütig seinen Kopf, schluckte und spürte seine Finger verkrampfen. Er ballte Fäuste und schlug sich auf den Brustkorb. Dann hängte er sich mit beiden Händen an die dicke Schlaufe des Stricks, hob vom Boden ab, rüttelte und zog, aber der Galgen wollte nicht nachgeben, sodass Leon sich auf das Laminat fallen ließ und von unten auf das Selbstmordinstrument starrte.

Der Gegenstand hatte ihn ein zweites Mal besiegt.

Sollte es etwa ein Bewusstsein entwickelt haben, meinen Selbstmord scheitern lassen, damit es nicht in Vergessenheit geraten würde, da es sonst einzig Mittel zum Zweck gewesen wäre?

Immer noch auf dem kalten Fußboden griff sich Leon in die Hosentasche, holte eine Schachtel Marlboro und Feuer heraus, steckte sich das Nervengift an und pustete den Dunst heraus. Wie ein Schornstein, dachte er sich, blickte wieder hoch auf den Galgen und sprang mit der Kippe im Mundwinkel auf seine Beine.

„Werde jetzt nicht auch noch verrückt. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Dann hätten die einen neuen Anhaltspunkt, würden es als verfluchten Beweis für ihre These betrachten,“ murmelte Leon zu sich selbst, stieg auf einen Stuhl und drückte die brennende Zigarette gegen den Knoten um den Balken.

Es dauerte eine Weile bis der Strick anfing zu schmoren, aber als sich die Hitze ihren Weg bannte, war der Widerstand des Galgens gebrochen. Bevor es ganz durch war, löschte Leon das kleine Feuer mit einem Glas Wasser, sodass er die letzten Fasern selbst zerreißen konnte und hörte, wie der Strick samt Schlaufe für den Kopf und gelösten Knoten herunter fiel.

Hätten die meinen toten Körper auch so befreit, fragte sich Leon und sah sich selbst mit geöffneten Augen, offenen Mund und voll geschissener Hose an dem Balken baumeln.

Doch wer hätte schon nach ihm gefragt? Seine Freunde? Die hatte er schon seit langem verloren. Seine Familie? Die wendete sich von ihm ab. Kollegen? Nein, wenn dann sein Vorgesetzter und das auch nur, um ihn nach fünfzehn unentschuldigten Fehltagen zu kündigen. Es gab niemanden, der sich um Leon sorgte, nicht mehr.

Das war mal anders. Vor einer Zeit, die Leon wie ein Traum vorkam. Oder war er eingeschlafen und nun in diesem Alptraum gefangen? Würde er aufwachen, wäre alles wieder wie früher, mit Familie, Freunden, Kollegen, Liebe?

Nein, das hier war die steinharte Wirklichkeit und deshalb warf er auch am gestrigen Abend den Strick um den Balken und band es zu einem Galgen. Er wollte sich umbringen, dem irdischen Dasein entziehen. Für Leon gab es nichts mehr, außer einem öden Job und den zermürbenden Vorwürfen.

„Aber warum habe ich es dann nicht getan?“ flüsterte er in den Raum hinein.

Seine Erinnerungen schwappten an die Oberfläche wie die Leichname eines Flugzeugabsturzes. Leon sah sich auf dem Stuhl stehen. Draußen schien die Sonne. Drückte die Hitze in die Wohnung und verdickte die Luft. Auf seinem Haaransatz fühlte er schon den Strick, als plötzlich das Telefon klingelte.

Er ließ es läuten. Doch seine Konzentration auf sein Ende war beschädigt. Es klingelte wieder und er schlich zum Hörer, nahm ab und hörte: Ein Nichts, keine Stimme, kein Ton, kein Laut.

Sollten die schon wieder meine neue Nummer erfahren haben? Dabei habe ich sie doch erst vor drei Wochen gewechselt. Ohne Eintrag ins Telefonbuch, nicht einmal mein Chef hat die Nummer, niemand, wer rief nur an?

Leon schüttelte sich. Als er sich gerade wieder auf den Stuhl stellen wollte, meldete sich das Telefon noch einmal.

Warum er sich wieder auf den Weg machte, wusste er nicht. Es hätte ihm auch vollkommen gleich sein können. Schließlich wollte er in wenigen Minuten tot sein. Aber dennoch nahm er den Anrufer entgegen. Jetzt meldete sich eine Stimme: „Leon?“

„Ja?“ fragte Leon erstaunt. Doch dann war das Gespräch beendet. Grübelnd warf er sich auf seinen alten Sessel, überlegte über den Grund des Anrufes und vor allem über den Besitzer der Stimme. Es war definitiv eine Frau, aber warum nur, warum?

Deshalb vergaß er sich gestern zu erhängen oder fühlte sich außerstande dazu und hob nun den angekohlten Galgen auf, um es im Mülleimer vergessen machen zu lassen. Doch die Gründe für sein Vorhaben verschwanden nicht. Weder die Einsamkeit, noch ausgeschlossen zu sein, nicht die Anschuldigung und erst recht nicht den herben und unerträglichen Verlust. Voller Erstaunen und Skepsis betrachtete er seine rechte Hand mit den 27 Knochen, wie konnte sie zu solch einer Tat nur fähig gewesen sein?

Textauszug aus „AT 27“ von Timo Quante. Unveröffentlicht. Entstanden 2013/2014