Glaubensrichtline
Diesmal hat es mich hart getroffen. Dabei dachte ich, ich hätte es überwunden. Habe mir so ein tolles System erdacht. So ne Logik. Ne Glaubensrichtlinie.
Alle 7 Jahre gleichen sich die Ereignisse. Situationen, denen ich nicht gewachsen war, wiederholen sich. Situationen, die ich gemeistert habe, werden entlohnt.
Schon bei der Zahl 7 hätte ich ins Grübeln kommen müssen. Das ist zu christlich. Da bin ich zu manipuliert. Habe mich ja auch konformieren lassen, wegen der Liebe Gottes und nicht wegen der Kohlen. Steht in meinem Reisejournal von der Konferfahrt 99. Kann also nicht gelogen sein. Heute sehe ich das anders. Aber sei es drum.
Zurück zu meiner Logik. Hier ein Beispiel: Ratenkauf von nem Fernseher vor 7 Jahren, der mich finanziell 5 Jahre hat leiden lassen. Führt dazu, dass ich keine bescheuerten Ratenkäufe mehr tätige und dadurch keine finanziellen Einbußen mehr habe. Verlockung war zwar in Form einer Reise zu den Malidiven da. Konnte ihr aber widerstehen. Ergo: So ne Herausforderungen stellt mir das Leben nicht mehr.
In meiner Logik habe ich Gott einfach gegen „das Leben“ eingetauscht. Statt von Gott getestet und belohnt oder bestraft zu werden, hat diese Aufgaben „das Leben“ übernommen. So konnte ich atheistisch sein und mich dabei ziemlich en vogue fühlen.
Aber dieser verdammte Regen im April hat meine nette Idee weggespült. Dieser Wichser. Genauso wie der März. Da war es zwei Wochen warm. Ich habe mich schon auf Frühling eingestellt. Die dicken Sachen in den alten Schrank im Keller verfrachtet. Und jetzt. Jetzt regnet das. Und das wirft mich komplett aus dem Gleichgewicht. So richtig. Das ist dann auch noch so ein mieser Scheiß-Regen. So einer bei 6 Grad, der sich anfühlt wie Eis. Da macht nichts Spaß. Da kann man nicht draußen sein. Nur aus dem Fenster schauen und sich von diesen Regentropfen anpissen lassen. Und ich kann auch an gar nichts anderes denken. An nichts.
„Was ist denn los? Hörst du mich nicht? Warte. Ich starte mal neu,“ meint Patricia. Die präsentiert gerade etwas via MS Teams im Online-Call. Ist irgendeine Excel. Keine Ahnung, was die mir damit sagen will. Ich antworte einfach nicht. Ich sage einfach nichts. Ich kann einfach nicht.
Patricia ist zurück in dem Online-Meeting.
„Hörst du mich jetzt?“
Ich warte. Ich schaue aus dem Fenster. Ich sehe mir diesen Fucker von April-Regen an.
„Hallo, hörst du mich?“
„Ja, jetzt höre ich dich.“
„Gut, da schau mal in Spalte E. Vergleiche mal 7 mit 14 und 17. Ich markiere.“
„Krass.“
Ich habe immer noch keine Ahnung, was sie mir sagen will. Ich will mich damit auch nicht beschäftigen. Der Regen interessiert mich mehr. Weil er mich mehr ankotzt. Patricias Idee nervt da nur.
„Findest du also auch. Dann werde ich der Sache mal auf den Grund gehen.“
„Halte mich auf dem Laufenden.“
„Mache ich. Und Danke, dass du dir das auch mal angesehen hast. Ich glaube, die machen, was die wollen. Das muss mal aufhören. Sind ja hier nicht auf dem Ponyhof.“
„Genau.“
Patrica beendet das Gespräch. Mein Chef ruft an. Ich nehme nicht ab. Ich kriege Emails. Ich kann die nicht überfliegen. Mein Chef ruft wieder an.
„Ich mache nen Arbeitsabbruch.“
„Was?“
„Ich komme nicht von der Toilette.“
„3 Tage-Regelung?“
„Ja, wenn es morgen nicht besser ist, werde ich zum Arzt.“
„Kennst den Meldevorgang?“
„Ja.“
„Gute Besserung.“
Ich fahre den Rechner runter. Ich mache mein Telefon aus. Ich lege mich auf das Sofa. Das ist das Schöne am Homeoffice. Man ist gleich an seinem Lieblingsort. Ich ziehe mir ne Decke bis zum Kinn. Ich starre an die Wand. Ich friere irgendwie. Ich bin irgendwie müde. Vielleicht bin ich wirklich krank. Vielleicht klopft da ne Erkältung an.
Nein, ist einfach Erkenntnis, dass alles so dahinplätschert. Alles so mittelmäßig ist. So unbefriedigend. Und alles verarscht. Falsche Versprechung.
Gott wird durch „das Leben“ ersetzt und das durch falsche Versprechungen. Ich schaffe mir da ne neue Glaubensrichtlinie. Nicht aufbauend, aber dafür ehrlich.
Ich döse kurz weg. Da klackt das Türschloss. Ich schaffe es nicht mehr, die Decke sicher zu verstecken. Schon stehen Vivien und Mara neben mir.
„Was machst du hier?“
„Was macht ihr schon hier?“
„Mara soll krank sein. Behaupten die im Kindergarten. Hat wohl ganz lange gehustet. Aber im Auto habe ich nichts davon gehört. Dann hättest auch du die abholen können.“
Purer Schrott
Die Stadt war mal anders. Damals. Da war immer etwas los. Da konnte man immer Menschen anglotzen. Und jetzt. Wie ausgestorben. Die ständigen Modernisierungspläne machen es da nicht besser. Vor nem Jahr wurde das alte Gebäude mit McDonalds abgerissen. Da steht jetzt ne Lücke. Da treffen sich Jugendliche zum Prügeln. Fettiges gegen Brüche eingetauscht. Und jetzt soll die Schillergalerie weichen für ein neues Super-Gebäude. Bedeutet wieder zahlreiche Geschäfte leer. Kein Grund mehr in die Stadt zu fahren. Und das wird so bleiben. Das neue Gebäude wird kaum Anklang finden. Gegen das Internet stinkt alles ab.
Vincent wollte mich hier treffen. Der will mir bei Kaffee irgendetwas erzählen. Klang wieder arg besorgt. Der Vogel. Wir sitzen vor so einer Backstube. So eine Filiale, die es in jeder Stadt gibt. Man wird nicht bedient. Kann aber draußen sitzen. Wenigstens etwas.
„Vielleicht sollten wir ein Café eröffnen,“ meint er.
„Für wen?“
Wir schauen uns beide um. Die Stadt stirbt nicht. Die ist schon tot.
„Also?“
„Ich werde mich von Sylvie trennen.“
„Trennen. Mal wieder.“
„Diesmal wirklich. Diesmal habe ich die Frau meines Lebens gefunden.“
„Erzähl mal,“ fordere ich. Und Vincent redet. Aber ich höre ihm nicht zu. Es interessiert mich nicht. Es wiederholt sich immer. Wie bei allen. Beziehungsprobleme. Immer die Gleichen. Immer Unzufriedenheit mit dem Partner. Mit sich selbst. Mit dem Leben. Es sind die Erwartungen. Es sind immer die Erwartungen. In Hollywood zeigen sie nur den Weg zur Liebe. Wie der Alltag ist, wird verheimlicht. Ist halt nicht erotisch, sich gegenseitig beim Kacken sehen zu können. Und dann glauben wir, die großen Emotionen mit jemand anderen erleben zu können. Aber am Arsch. Gibt noch nicht einmal Sex wie im Porno. Alles Illusion. Alles Enttäuschung. Immer.
Ich schaue auf das Einkaufzentrum. Die Fassade der City-Galerie bröckelt. Da geht auch kaum noch jemand rein. Ein Drittel der Verkaufsräume steht leer. Das oberste Parkdeck ist gesperrt.
„Sorry,“ sage ich zu Vincent. Ich stehe einfach auf. Ich muss einfach weg. Und ich gehe. Kurz in nen Penny. Kurz zwei Dosen Jim Cola. Und ich gehe weiter. Irgendwohin. Da, wo meine Beine mich hintragen. Der Whiskey wirkt. Und im nächsten REWE besorge ich mir wieder zwei Dosen.
Da ist irgendein Weg. Hier war ich noch nie. Links und rechts Mauern. Und da ein Tor. Der Hintereingang zu einer Schule. Und da stehen drei Typen. Und ein Mädel. Keine Ahnung wie alt. Die drücken das Mädel gegen die Mauer. Der eine hat seine Hose auf halb acht. Jetzt sehen die mich.
„Was glotzt denn so, Alter?“
„Willst du aufs Maul?“
Die lassen sich nicht stören. Die haben etwas vor. Etwas Gemeines. Etwas Hinterhältiges. Etwas, was das Mädel für immer ruinieren wird.
Und ich? Ich stehe da. Ich starre dahin.
„Hörst du schlecht?“
Ich lege mir im Kopf ein paar Worte zurecht. Aber die wollen nicht raus.
„Willst auch mal, wa?“
Und die legen los. Das Mädel schreit kurz. Dann hält ihr jemand den Mund zu. Die wechseln sich ab. Die schauen auch mich dabei an. Aber ich kann sie nicht unterscheiden. Die sehen gleich aus. Mit ihren Kapuzen. Mit ihren Turnschuhen. Nur das Mädel nicht. Die sieht aus wie weggeworfen. Wie im Stich gelassen. Und das habe ich. Das weiß ich. Aber ich kann gerade nicht.
„Jetzt darfst du, Alter.“
Ich drehe mich um. Und ich laufe. Ich laufe so schnell ich kann. Und ich will kotzen. Mich selbst ankotzen. Alles ist so zum kotzen.
Keine Wissenschaft
Ich bin mit Mara in diesem Science Center. Wissenschaft zum Anfassen. Hauptsächlich für die Kleinen. Mara liebt das da. Ich auch. Weil ich beobachten kann. Und sehen kann, wie sich Mara freut. Heute fällt es mir schwer, Mara anzusehen. Ich fühle mich, als hätte ich sie im Stich gelassen. Das ist natürlich ne Metapher für das vergewaltigte Mädel. So schlau bin ich auch, aber das macht mich fertig. Das Mädel hat auch nen Vater und der hätte sich gewünscht, dass ich für sie kämpfe. Und was habe ich getan? Geglotzt. Und dann weggerannt. Ich habe den Rest von ihr noch nicht einmal aufgesammelt oder die Bullen gerufen oder irgendetwas. Ich bin nur gerannt. Und danach habe ich weiter gesoffen. Das Ereignis geghostet. Und jetzt will ich einen auf liebevollen Papi machen. Ich Heuchler.
Mara rennt von einem Ausstellungsstück zum nächsten. Kreuz und quer durch das Gebäude. An einem Kadaver eines Igels hält sie an. Der wird beim verfaulen aufgenommen. Das Video kann man sich auf nem Display direkt daneben ansehen. Die Zeit mit nem Drehknopf raffen. Macht Mara. Sie ist fasziniert. Schnell kommen zwei Jungs von irgendwoher. Sie drücken sich an die Scheibe. Mara ist verdrängt. Ich muss nicht intervenieren. Mara läuft zum nächsten Ausstellungsstück. Irgendwelche Kugeln, die man auf ne Scheibe wirft. Schnell langweilig. Dann zu nem Magneten. Kann ich nicht erklären. Wieder Jungs, die sich dazwischen drängeln. Es sind immer Jungs. Nie Mädchen. Und nie sind da Eltern, die etwas sagen. Die sind meist meterweit weg. Sowieso nerven mich die Eltern heute. Sind so Hipster. So lässige Eltern. Die Väter immer ganz schlau. Wollen alles erklären und die Mütter so entspannt. Ich bin weder schlau, noch entspannt. Ich verstehe das hier alles nicht. In den Naturwissenschaften muss ich geschlafen haben.
„Ich muss mal.“
„Dann zur Toilette.“
„Muss du auch?“
„Ja.“
„Treffen wir uns wieder hier?“
„Wenn du es allein schaffst.“
Mara verschwindet im Damenklo. Ich bei den Herren. Endlich schafft sie es allein. Die Männertoilette ist kein Platz für kleine Mädels.
Ich bin vor ihr fertig. Ich warte. Und ich warte weiter. Ich werfe nen Blick auf meine Uhr. Schon 5 Minuten. Sie braucht bestimmt Hilfe. Kann ich einfach aufs Damenklo?
Scheiße. Ich bin ein besorgter Vater. Das werden die schon verstehen. Also Tür auf.
„Mara?“
„Da haben Sie sich aber vertan,“ unterrichtet mich ne Oma.
„Ich suche meine Tochter.“
„Ich bin hier allein.“
Ich stoße jede Kabinentür auf. Keine Mara. Mein Herz schlägt. Aber so richtig eklig. So unnatürlich. Und da läuft mir Schweiß von überall raus. Was mache ich jetzt?
Ich renne durch dieses verdammte Gebäude. Mein Ziel ist der Infopoint. Ich schaue nach links und rechts. Keine Mara. Panik.
Am Infopoint steht jemand vor mir. Quatscht mit dem Personal. Lacht dabei. Die flachsen.
„Bitte, schnell…“
„Jetzt bin ich dran.“
„Ich suche meine Tochter. Die ist verschwunden.“
„Müssen Sie besser aufpassen.“
Das hat gesessen. Da will sich gerade alles entladen. Merkt auch das Personal.
„Lassen Sie bitte den Mann kurz vor. Das klingt sehr dringlich,“ erkennt die und entschärft mich.
„Wie heißt sie denn?“
Ich nenne den Namen und wenigen Sekunde später wird der durch die Lautsprecher gerufen.
Das ist Karma. Das habe ich verdient. Weil ich den Mund nicht aufgemacht habe. Weil ich dem Mädel nicht geholfen habe. Und jetzt! Das ist das Worst-Case-Szenario. Das geht nicht schlimmer. Ich kriege kaum noch Luft. Ich will irgendwohin oder irgendetwas machen.
„Beruhigen sie sich. Die kommt bestimmt. Wir haben überall Kameras. Überall,“ sagt die vom Personal. Ein Kollege von ihr hat mir nen Klappstuhl geholt. Sie drücken mich darauf.
„Wo haben Sie denn ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“
Ich schildere. Ich komme mir vor wie ein Lumpenvater. Als hätte ich meine Aufsichtspflicht verletzt.
Und die Zeit vergeht. Bilder, was gerade mit Mara passiert. Und was mit ihr passieren wird. Wie Vivien reagiert. Was mit uns passieren wird. Das wird alles verändern. Das werde ich mir nie verzeihen dürfen.
Ich hole mein Handy raus.
„Wen wollen Sie anrufen?“ will die vom Personal wissen.
„Die Polizei.“
„Warten Sie.“
„Jede Sekunde zählt.“
Sie legt die Hand auf meine Schulter. Es beruhigt mich. Dann beruhigt es mich mehr.
„Wir haben sie,“ sagt jemand ganz anderes zu mir.