„Waldbrände in Kalifornien, Griechenland, Italien. Die Welt brennt,“ lese ich meinem Alten die Schlagzeile des Spiegels vor.

„Und hier saufen wir ab,“ stellt er fest. Er will von Klima nichts wissen. Er redet nur über Wetter. Er ist ein anderer Schlag. Er ist eine andere Generation. Er dreht sich im Bett. Er stöhnt.

„Schmerzen?“ frage ich.

„Schmerzen? Mein ganzer Körper ist Schmerz.“

„Mehr als gestern?“ will ich wissen.

„Mehr als gestern? Immer diesen Fragen,“ wirft er mir gegen den Kopf. Ich schlucke. Kommunikation ist zwecklos.

„Ich lasse dich allein,“ erkläre ich und entferne mich vom Krankenbett.

„Aber denk an Heiner. Die brauchen die Molle,“ erteilt er mir Befehle.

„Und den Wolf und die Verschlussmaschine,“ füge ich an.

„Und ich habe noch gut 10 Meter Kunstdarm. Der muss auch weg. Kannste mitnehmen,“ sagt er.

Ich arbeite mich durch den Keller meiner Eltern. Hätte Mama dieses Chaos zugelassen? Hätte Mama dem Ansammeln von Dingen ein Ende machen können?

Nein, sie konnte es nicht. Er hat schon immer gehortet. Autoteile, Werkzeuge, Hölzer, Bretter, Stangen. Dinge, von denen ich nicht die Bezeichnung kenne.

In einem Regal finde ich die gewünschten Gegenstände. Daneben weiteres Werkzeug zum Abschlachten.. Ein Bolzenschussgerät. Lange Messer. Ist der Besitz legal?

Ich schnappe mir die hölzerne Molle. Spüre den leicht fettigen Belag des Inneren. Jahrzehnte alte Wurstreste. Den Fleischwolf hinein. Den Darm gesucht. Den Kunstdarm aufgerollt gefunden.

Mein Vater schreit. Die Krämpfe. Der Krebs.

„Alles gut?“ will ich wissen.

„Verschwinde schon. Die wollen pünktlich anfangen. Und trink einen für mich mit,“ fordert der Alte mit Schmerz verzehrtem Gesicht. Er sieht nicht aus wie Anfang 60. Er ist gealtert. Im Zeitraffer. Ein Knochen. Ein Fossil. Ein magerer 100jähriger.

Rein in den Polo. Kinder am Straßenrand. Tempo reduziert. Ich schaue. Sie zündeln. Sie stecken Taschentücher an. Halten sie in der Hand. Werfen sie in die Luft. Soll ich mahnende Worte sprechen? Bin ich verantwortlich?

Ich war auch nicht anders.

Einfahrt zu Schulzes Hof. Bogen aus rotem Klinkerstein. Hier gab es mal Kühe. Hier gab es mal bäuerliches Leben. Ich habe es nie erfahren. Nur von Oma und Opa gehört. Ein paar Hühner laufen mir entgegen. Stefan auch. Er reicht mir die Hand.

„Kannste mal mit anfassen?“ fragt er. Wir ziehen das große Hoftor zu. Es klemmt. Es wackelt. Es schließt.

„Nicht, dass uns jemand verpfeift,“ erklärt Stefan.

„Eigentlich wollte ich euch nur die Sachen bringen,“ werfe ich ein.

Ich bin mit Stefan zur Schule gegangen. Er ist hiergeblieben. Ich bin in die Stadt gezogen. Wir waren verschieden. Wir sind verschieden. Ich weiß nicht, über was wir reden sollen.

„Einer muss deinen Alten vertreten,“ erklärt Stefan.

Er zündet sich eine Zigarette an. Dann geht er vor. Ich höre es quicken. Es ist das Schwein. Etwas schüttelt mich.

„Die Sachen kannste im Auto lassen. Wir kümmern uns erst um das Viech,“ prophezeit Stefan.

Ich folge ihm in den Stall. Es riecht unangenehm. Kot, Schmutz, altes Essen, Feuchtigkeit. Ein halbes Dutzend Männer starrt mich fragend an.

„Der kleine Jürgen,“ sagt Heiner. Meine Identität ist aufgeklärt. Heiner geht auf mich zu. Zigarette im Mundwinkel. Er schüttelt meine Hand. Klopft auf meine Schulter.

„Wie geht es deinem Alten?“ will ein anderer wissen. Ich berichte. Es sind keine guten Nachrichten.

„Darauf schenken wir uns einen ein,“ schlägt jemand vor.

Schnapsgläser werden gefüllt. Mir wird eins in die Hand gedrückt. Und runter. Korn. In mir brennt es.

„Schon bei einer fachmännischen Schlachtung dabei gewesen?“ werde ich gefragt. Ich schüttele den Kopf.

„Die Leute aus der Stadt denken, die Wurst wächst auf Bäumen,“ meint ein anderer. Alle lachen.

„Dann wollen wir mal,“ sagt jemand.

„Vier halten und ich setze den Bolzen,“ erklärt ein anderer.

„Du hältst mit fest,“ werde ich eingeteilt.

Wir gehen in den Stall. Das Schwein quickt. Das Schwein schreit. Das Schwein wandert in die Ecke. Es hat Angst. Es spürt, was folgen wird.

„Auf drei packt ihr es,“ sagt der Typ mit dem Bolzenschussgerät in der Hand.

Von draußen tönen Sirenen. Martinshorn. Ein Wagen, zwei Wagen. Pause. Dann der nächste. Und noch einer. Es hört gar nicht auf.

„Was ist denn da los?“ fragt Heiner.

„Gehen wir nachschauen,“ schlägt jemand vor.

„Aber lasst das Bolzenschussgerät nicht liegen. Und zieht das Tor gleich wieder zu,“ mahnt Heiner.

Gnadenzeit für das Schwein. Wir gehen zur Straße. Das halbe Dorf steht auf dem Gehweg.

Feuerwehr, Polizei und Rettungswagen rasen an uns vorbei.

„Ist das Flüchtlingsheim. Brennt lichterloh. Da sollen welche nicht rauskommen,“ berichtet ein Junge mit ernster Miene.

„Wären die doch bloß bei sich geblieben. Dann müssten sie sich jetzt nicht so quälen,“ fügt eine Alte an.

„Tja,“ meint Heiner. Er kehrt zurück auf den Hof. Die anderen folgen.

„Wer hat den Stall nicht zugemacht?“ will aufgeregt jemand wissen.

Das Schwein läuft direkt auf uns zu. Der mit dem Bolzenschussgerät läuft dem Tier entgegen. Sprung. Schuss. Zucken. Leblose Augen.