Die Sonne drückte ihre Strahlen durch die verstaubten Fenster, die vergilben Vorhänge und letztendlich direkt auf Brunos Schädel.
Die Schweißperlen auf seiner Stirn verdunsteten augenblicklich, sodass nur eine salzige Spur in seinen Falten übrigblieb. Aus seinen Achseln zog der Dunst des Tages, verklebte einen Moment im T-Shirt, um dann Brunos Geruchssinn zu strapazieren.
Vom Spielplatz vor dem Wohnblock lärmte es. Brunos Neugierde war geweckt. Er richtete sich von seinem Sofa auf, zog sein nasses Shirt gerade, stellte sich auf den Balkon und steckte sich eine Kippe an.
Mit dem ersten Zug in seinen Lungenflügeln schaute er herunter auf die hölzerne Schaukel. Dort weinte ein Mädchen erbärmlich, hielt sich mit schmerzverzerrten Gesicht das Knie und warf hin und wieder mit etwas Sand um sich.
Ihr Ziel: Zwei Jungen in Fußballtrikots, die mit nackten Fingern auf das Mädchen zeigten und sich vor Lachen den Bauch hielten.
Grausam, dachte Bruno, schüttelte den Kopf und wendete seine Aufmerksamkeit einer Krähe zu, welche vom gegenüberliegenden Dach das Ereignis genauso interessiert verfolgte.
Ihr Fokus lag jedoch auf der kleinen rosa Brotbox des Mädchens, die unweit des Geschehens geöffnet verweilte. Heraus starrte ein Klumpen in Alufolie und ein grüner Apfel.
„Traust du dich?“ murmelte Bruno in die Geranien vor ihm, die nach Wasser lechzend ihre Blätter in den Mutterboden des Blumenkasten hängen ließen.
Über seinem Kopf vernahm Bruno ein aggressives Krächzen. Eine weitere Krähe.
Der gegenüberliegende Vogel erwiderte mahnend.
Das Mädchen heulte noch immer. Die Jungs hatten auch noch Gefallen daran.
Die gegenüber von Bruno befindliche Krähe streckte ihre Flügel aus, sprang vom Dach und zielte auf die Brotbox.
Der Kontrahent über Bruno wiederholte es und war jetzt für Bruno sichtbar.
„Wer gewinnt?“ flüsterte Bruno gespannt in die nächste Zigarette, welche in seinem Mundwinkel verweilte.
Es war die Krähe von gegenüber. Sie stürzte sich sofort auf die Alufolie. Die andere Krähe versuchte sich am Apfel. Beide hatten keinen nachhaltigen Erfolg und mussten mitansehen, wie der jeweilige Gegenstand zurück auf den Boden plumpste.
Die Kinder hatten ihren Streit schlagartig vergessen. Das Mädchen stand angewurzelt vor Angst auf dem sandigen Boden vor dem Schaukelgerüst.
Die beiden Jungs ergriffen waghalsig die Initiative. Schnell sammelte der eine die Brotbox auf und der andere stürmte auf Apfel und Klumpen in Alufolie zu.
„Geht doch,“ sagte Bruno stolz zu einer Hummel, welche vergeblich nach Nektar an den Blühten der vertrockneten Tomatenpflanze suchte.
Die beiden Krähen gaben sich nicht geschlagen. Sie legten ihre Konkurrenz ad acta und setzen gemeinsam zum Sturzflug an.
Ihr Ziel war der Junge mit dem Mittagessen.
Eine Krähe stürzte auf dessen Haar. Der Junge schrie erschrocken, während die Krallen ein paar Strähnen herauszerrten. Sein Freund eilte ihm zur Hilfe. Sofort geriet er ins Fadenkreuz der anderen Krähe. Mit spitzem Schnabel warf sie sich zunächst in die Höhe und dann wie ein Sturzflieger in das Gesicht des Jungen.
„Aua, aua,“ schrie dieser auf und hielt sich das Auge.
Die Krähe hatte seinen Augapfel herausgerissen und verzog sich damit zurück auf das Dach gegenüber von Bruno.
Dort inspizierte sie kurz das Körperteil, um es dann gierig herunter zu schlingen.
Bruno beobachte es sprachlos. Setzte sich dann schnell in Bewegung, hastete die Treppe herunter, wählte währenddessen 112 und nahm unten angekommen den einäugigen Jungen in den Arm.
Die andere Krähe griff sich den Klumpen in Alufolie und zog von dannen. Eine weitere hinzugekommene Krähe schnappte sich den herrenlosen Apfel und verköstigte ihn in aller Ruhe vom Dach des Klettergerüsts.
Das Schreien der Kinder hielt noch eine ganze Zeit lang an. Es verstummte erst, als Bruno den einäugigen Jungen an einen Rettungssanitäter übergab.