Wem will ich hiermit etwas beweisen? Und wie konnte ich nur auf diese beschissene Idee kommen?

Und es ist noch so unfassbar lang. So unfassbar viele Kilometer. Ich könnte jetzt einfach stoppen. Einfach NEIN sagen.

Und wen würde es schon interessieren? Na klar, die nächsten zwei bis drei Wochen würde sie mich noch Fragen und belächeln. Freunde, Familie, Kollegen. Aber dann wäre der Spuk vorbei. Gelegentlich würde meine Niederlage wieder Thema werden. Kurz aufflammen, wenn sich mal wieder jemand der gleichen Herausforderung stellen will.

Aber sonst? Vergessen. Vergessen wie alle Taten. Die guten und auch die schlechten. Es interessiert die nicht. Vielleicht ist es sogar besser. Dann fühlen sie sich mir überlegen. Mögen mich mehr. Denn wer mag schon die Besseren. Niemand. Ich auch nicht. Deshalb umgeben wir uns gern mit Leuten mit Makeln. Mit mehr Makel als wir.

Und was ist mir eingefallen? Ich, der laufende Rebell. Zum Glück habe ich keine Zeit für diesen Insta-Account gefunden. Und die Website habe ich nur halbherzig angefertigt. 12 Besucher in 3 Wochen. 7 davon war ich selbst von meinem Smartphone.

Ein laufender Rebell, was soll das überhaupt sein? Was hat Laufen schon mit Rebellion gemeinsam? Und wo zum Teufel bin ich ein Rebell?

Hinter mir atmet der nächste. Zieht an mir vorbei. braungebrannte Beine. Das passende Outfit ganz in Silber von Nike. Die Schuhe sehen aus wie von einem Außerirdischen. Er wirkt wie ein silberner Blitz. Ein humanoider Mercedes Bolide. Zisch. Weg ist er.

Und eigentlich ist er auch nicht viel schneller als ich. Was machen schon 30 Sekunden auf nen Kilometer aus?

Dafür aber besser gekleidet. Und teurer. Prof ist er nicht.

„Go, Joshi, Go Joshi!“ rufen welche von der Kanalbrücke herunter. Sie sehen aus wie Kollegen. Ich halte ihnen meinen Daumen entgegen. Der Mittelfinger wäre mir lieber. Warum habe ich jedem davon erzählt? Warum konnte ich meine große Fresse nicht halten?

Jetzt schnappe ich mir drei Läuferinnen. Sie tragen viel zu enge Shorts in viel zu grellen Farben. Sie lachen sogar. Deshalb sind die so langsam. Ich bin der Hase und die sind die Schildkröten.

Gepackt. Und damit neuen Mut. Der laufende Rebell ist zurück. Ich packe euch alle.

Kilometer 12. Noch etwas über 9. Endlich wieder ne Verpflegungsstation. Im Laufen greife ich mir zwei Becher. Einen mit Wasser. Den anderen mit Iso. Den schütte ich mir gleich rein. So ist eine Hand frei für eine Banane. Eine halbe. Schon geöffnet. Logisch. Sonst würde wir wie ein Klischee auf der Schale ausrutschen. Oder ich würde in Mario-Kart-Manier auf die Idee kommen, meine Kontrahenten damit aus dem Weg zu räumen.    

Kotrahenten? Sind wir das überhaupt? Macht hier nicht jeder sein eigenes Ding? Sind die anderen nicht egal? Geht es nicht nur darum, sich selbst zu feiern? Sich selbst etwas zu beweisen? Selbst aus der Komfortzone herauszukommen?

Damit bin ich Teil von dem, gegen was ich rebellieren will. So verlogen. So ein Arsch. Ich sollte anhalten. Das wäre Rebellion gegen diese kommerzielle Veranstaltung. Das wäre mein altes Ego. Das Ich auf den Demos. Das Ich dagegen!

Aber ich will doch dafür sein! Das will ich Joshua Junior auf den Weg geben. Das die Welt besser ist, wenn man für etwas ist. Das ein Dagegen einen schlecht fühlen lässt.

Was will ich überhaupt? Jetzt will ich nur, dass dieser scheiß Lauf endlich vorbei ist.

Ich überhole andere. Ich werde überholt. Von hinten kommen die Sprinter auf den letzten Kilometern. Vorne sind die, die zu schnell zu schnell waren. Irgendwie alles Idioten. Die einen haben sich verzockt. Die anderen halten sich für Schlauer.

Endlich. Ich sehe die Jungs. Sie hängen in ihren Gartenstühlen vor der Badeanstalt am Streckenrand. Natürlich habe sie Dosenbier. Natürlich hören sie laute Musik. Und natürlich pöbeln sie. Wie damals. Nur sind wir jetzt anders. Wir sind assimiliert.

„Joshi!!!“ rufen sie mir entgegen.

Sie zerstechen Dosen. Es spritzt. Es trifft mich. Ich öffne den Mund. Ein paar Tropfen landen auf meiner Zunge. Auch andere werden getroffen. Finden die nicht so witzig. Die Jungs ernten Scheibenwischer. An vorherigen Kilometern hätte es unschöne Worte gegeben. Aber die Läufer sind jetzt zu fertig. Mich wunderst es nur, dass niemand meine Jungs vergrault hat. Keine Ordner. Keine Polizei. Niemand. Vielleicht, weil sie harmlos sind. Harte Fassade, butterweicher Kern. Blender. Wie alle.

Es gibt mir noch mal Dampf bis zur nächsten Station an Kilometer 18. Ich sammle nen Riegel und Wasser ein. Dann die finalen Kilometer. Es zerrt an meinen Kräften. Alte Männern und junge Frauen verhöhnen mich. Sie ziehen ohne mit der Wimper zu zucken an mir vorbei. Eine versucht mich zu motivieren. Sie schafft es nicht. Ich bring es jetzt einfach nur zu Ende.

Das sehe ich jetzt auch. Und gefühlt 100 Teilnehmer ziehen noch an mir vorbei. Sprinten als würde es um die Goldmedaille gehen.

Für mich geht es nur noch ums Nichtgehen. Ums Zu-Ende-Laufen.  

Vanessa steht mit dem kleinen Joshua auf dem Arm fast am Ziel. Sie winken mir. Ich simuliere ein Lächeln. Dann habe ich es geschafft.

Meine Nummer wird durchgerufen. Ich bleibe stehen. Ich schnaufe. Aber nur kurz. Dann laufe ich weiter. Scheiß drauf. Was ist danach? Was ist, wenn ich jetzt aufhöre? Höre ich für immer auf? Werde ich nie wieder laufen?

Ich will jetzt nicht denken. Ich will jetzt einfach weitermachen. Und das mache ich. Ich bewege mich einfach weiter. Weg von der Veranstaltung. Weg von der Strecke. Ich schmeiße die angesteckte Nummer weg. Die Sicherheitsnadeln klirren kurz auf dem Asphalt der Straße. Irgendwie wie frei sein.

Dann laufe ich über diese verdammte rote Ampel. Und schon finde ich mich auf der Motorhaube eines roten Golfs wieder. Der Fahrer und ich wechseln die Blicke. Beide froh, dass ich noch lebe. Beide glücklich, dass ich keine Delle in seiner Karre verursacht habe.

„Wollen wir ins Krankenhaus?“ will er wissen.

Ich denke kurz darüber nach. Aber mir fehlt nichts. Er hat mich gestoppt. Mein Lauf ist vorbei. Ich habe 4 Kilometer raufgelegt. Warum? Weil ich ein Schwachkopf bin.

„Ein Bier wäre geil,“ schlage ich vor.

„Spring rein. Wir fahren zur nächsten Tanke,“ schlägt er vor und schon sitze ich in seinem GTI.   

„Müffelst etwas. Die Assis laufen auch gerade,“ meint er.

„Die Assis?“ will ich wissen.

„Diese Schnösel mit ihrem Halbmarathon. Ganze Stadt ist wegen denen dicht,“ wird er präzisier.

Ich oute mich nicht als Schnösel. Ich schaue mir meinen neuen Kumpel an. Sieht aus wie jemand, der mit den Händen arbeitet und seine Kohle in seinen Wagen pumpt. Der ist laut. Irgendein Techno dröhnt aus den Lautsprechern.

„Ich bin Lupe, und du?“ sagt er.

„Joshi, Lupe?“

„Weil ich jede Macke an ner Karre entdecke. Eigentlich Marcel,“ erklärt er.

Wir fahren die nächste Shell hoch. Ich steige aus. Ich beobachte den Himmel. So grenzenlos. Dann denke ich kurz an Vanessa und Joshua. Die machen sich bestimmt schon Sorgen. Und die Jungs. Die wollten mit mir einen trinken. Und ich? Ich bin mit nem Autoproll an einer Tanke.

Lupe kommt mit vier halben. Alles Krombacher Dosen.

„Auf einem steht sich nicht gut,“ meint er.

Wir trinken das Bier. Das erste geht runter wie Öl. Schon muss ich pissen.

„Warte, ich komme mit. Lass uns da an den Baum,“ schlägt Lupe eine Eiche vor.

Wir stehen. Wir pinkeln. Bei mir dauert es lange. Bei Lupe noch länger.

„Ich bin alt,“ sagt er und lacht laut. Dann verstummt sein Lachen. Etwas anderes ist lauter. Ein Motor. Der Motor seines GTIs.

„Scheiße, die ziehen mich ab. Die klauen meinen Wagen,“ ruft er und läuft.

Lupe ist wirklich schnell. Aber nicht schnell genug für die Diebe.

„Du Ficker. Du gehörst zu denen. Du hast mich abgelenkt. Das war euer Plan. Du wolltest, dass ich meinen Schlüssel stecken lasse,“ sagt Lupe. Er kommt auf mich zu. Er schubst mich.

„Bist du bescheuert?“ frage ich. Schon habe ich mir eine gefangen. Lupe wirft sich auf mich rauf. Ich fange mir noch drei bis vier. Irgendwo verliere ich einen Zahn. Dann hören wir die Sirenen. Die Bullen kommen. Es braucht drei, um Lupe von mir wegzureißen.

„Sie können nicht die Nummer Ihrer Frau auswendig? Und auch nicht Ihre eigene?“ will mir der Cop nicht glauben als ich mit ihm im Bullenwagen sitze.

„Nein, aber ich weiß, wo ich wohne. Und meine Frau wohnt da auch und mein Ausweis liegt da auch rum,“ meine ich.

„Sind ein kleiner Rebell, wa? So ganz ohne Ausweis unterwegs und jetzt noch frech werden,“ meint der Cop.

„So meinte ich das nicht,“ entschuldige ich mich ganz unrebellisch.   

Die Cops fahren mich dann tatsächlich nach Hause. Alternative wäre eine Zelle gewesen. Aber die sind gerade alle voll.

„Was hat er angestellt? Bist du bescheuert?“ begrüßt uns Vanessa an der Haustür.

„Entschuldige.“