„Mit 23 Kröten kommst du nicht weit,“ sagt Mika. Er verzieht das Gesicht. Will er schreien? Weinen? Er streckt seine Hand zu meiner Dose Becks aus.

„Wer nichts wagt und so,“ meine ich.

Ich lasse ihm die Dose. Ich ziehe davon. Nacht. Lärm in den Straßen. Frauen. Jungs, die wegen Frauen sabbern. Männer, die Frauen ansprechen. Frauen, die genervt sind von Jungs und Männern. Szenen wie immer.

Irgendeine Bar. Tresen. Cocktail to Go bestellt. Mojito. Zuviel Alkohol. Zu wenig Minze.

Wieder auf der Straße. Schlürfe zur Spielo.  

„Das Getränk bleibt draußen,“ entgegnet mir eine Alte hinter einer Scheibe aus Plexiglas am Eingang der Spielhalle.

Zwei Schritte heraus. Drei Schluck die Kehle herunter. Wieder herein.

„Geht doch,“ murrt die Alte zufrieden.

Grelles Licht. Fratzen vor Automaten. Tuten. Piepen. Scheine werden in Schlitze geschoben. Münzen werden in Öffnungen gesteckt. Menschen kleben vor Bildschirmen. Augen starren auf Zahlen, Bilder, Animationen.

Einarmiger Bandit. 23 Euro – 6 Euro für den Coktail = 17 Chancen auf den Jackpot.

Ein Euro verschwindet. Banane, Banane, Kirsche.

Wieder ein Euro. Apfel, Kiwi, Apfel.

6 mall Fallobst. 11 Euro.

Pokerautomat. 50 Cent. 2 Damen und zwei Könige. 3 Euro Gewinn. Jetzt geht es los! Endlich. Fortuna hält mich.

1 Euro. Drei 10nen. Jaaaa! Sogar 9 Euro! Glückssträhne!

2 Euro. Nichts.

1 Euro Nichts.

Wieder 1 Euro. Nichts.

Ich verliere mit einem Drilling Buben. Schmeiße noch ein paar 50 Cents ein. Verliere weiter.

Ich fühle die 2 Euro Münze in meiner Hosentasche. Die letzte. 20 Minuten Spielhalle. 15 Euro verschwunden.

Ein Typ am einarmigen Banditen gewinnt dreistellig. Er verzieht keine Miene. Der Automat spuckt ihm Scheine entgegen. Er stopft sie gleichgültig in seine Hosentasche.  Soll ich ihn abziehen?

Er ist eine arme Gestalt. Ich bin eine arme Gestalt. Wir sitzen im selben Boot. Ich belasse es bei dem Gedanken.

Ich springe auf die Straße. Raus in die Nacht. Die Wärme empfängt mich. Die Wärme umhüllt mich. Die Wärme erdrückt mich.

Mika sitzt noch in derselben Bushaltestelle. Wie immer. Linie 201 am ZOB. Beobachtet die Menschen, die Busse, die Nacht.

„Glück gehabt?“ fragt er.

Ich schüttele den Kopf.

„Mist,“ sagt er.

„Mist,“ füge ich hinzu.

Blick in den Himmel. Keine Sterne. Der Himmel der Stadt. Dunkel.

„Für was brauchst du eigentlich die Kohle?“  will Mika wissen. Er schaut mich an.

„Für was man Kohle so braucht,“ entgegne ich.

„Frauen, Autos, Partys,“ behauptet Mika. Er blickt mich abfällig an.

„Wie du meinst.“

„Schon traurig, wie man sein Leben nicht geschissen bekommt, obwohl man alles hat. Und dann noch so einem Scheiß hinterherrennen,“ behauptet Mika. Er spuckt auf den Boden.

„Einen Scheiß weißt du,“ murmele ich.

„Ist doch so. Statt aus deinem Leben etwas Anständiges zu machen, träumst du von dicken Karren, fetten Ärschen und Partys ohne Ende. Aber was machst du dafür? Nichts, du hängst den ganzen Tag an deinem Smartphone. Bist auf Facebook, Instagram, TikTok. Das ist so arm,“ wirft mir Mika vor.

„Was willst du überhaupt? Du kennst mich gar nicht,“ werfe ich ein.

Woher kenne ich Mika überhaupt? Er ist schon immer hier an der Haltestelle. Schon seit ich denken kann. Seit ich mir die Nächte um die Ohren schlage. Was macht er? Wer ist eigentlich Mika? Und was erlaubt er sich? Und warum bleibe ich hier? Warum verschwende ich genau hier meine Zeit?

„Kennst du einen von euch, kennst du alle. Für einen Fick würdest du sogar deine Mutter verraten. Und für eine Million…. Ich will es gar nicht aussprechen,“ sagt Mika.

„Du bist so arm. Schau dich doch mal an. Hängst ab in einer verdammten Bushaltestelle. Hast du überhaupt ein Zuhause? Hast du überhaupt Freunde? Hast du überhaupt Familie?“ werfe ich ihm entgegen. Seine Lippe bebt.

„Sage ich doch. Du bist ein Versager. Ein Versager wie wir alle. Nur lässt du den Moralischen raushängen. Das macht dich zu einem Heuchler. Ein versoffener Heuchler, der nichts taugt,“ beleidige ich ihn.

Mika springt auf. Er versucht mich zu greifen. Ich weiche aus. Er nimmt erneut Anlauf. Er meint es ernst. Er holt aus. Ich ducke mich ab. Ich tauche auf. Ich hole aus. Treffer mit meiner Rechten. Ich kriege ihn zu fassen. Ich drücke ihn gegen das Glas der Haltestelle.

„Ich könnte dir so das Maul einschlagen,“ werfe ich Mika entgegen. Er lacht. Er lacht lauter. Er weint vor Lachen. Er gleicht einer Hyäne.

„Und du meinst, dass würde mich irgendwie stören? Das würde mich verletzen? Du meinst, es würde dir irgendwie ein gutes Gefühl geben? Dein Selbstwert stärken? Meinst du das wirklich? Dann schlag zu!“

Ich lasse ihn los.

„Los, schlag zu, wenn du meinst, es würde dich stärken oder mich schwächen. Los, schlag zu! Oder weißt du, dass es in Wahrheit andersherum ist. Ich dadurch wachse und du dich weiter verlierst?“ sagt Mika. 

Das Gesagte verwirrt mich. Es imponiert mir. Ich lasse von ihm ab. Mika setzt sich wieder auf die metallene Bank der Haltestelle. Er klopft sein Shirt gerade, greift in seine Hosentasche und holt Tabak und Papers heraus.

„Willst du auch?“ fragt er.

„Nein,“ antworte ich. Ich starre ihn fragend an. Mika dreht seelenruhig die Kippe. Er zündet sie an. Es stinkt nach billigem Tabak.

„Erst wenn dir alles egal ist, kannst du aufrecht Gehen lernen. Willst du aufrecht gehen können?“ will Mika wissen.

„Ja,“ fällt es aus meinem Mund.

„Du brauchst also Kohle,“ wiederholt Mika.

„Ja.“

„Und nicht für Weiber, Alkohol und überflüssigen Scheiß,“ stellt Mika fest.

Ich nicke.

„Ich habe da was. Da kannst du dir ein paar Euros verdienen und gleichzeitig lernen, wie man aufrecht geht. Hast du Interesse?“ fragt Mika. Er schaut mir in die Augen. Er starrt in mich hinein. Er sucht etwas. Hat er es gefunden? Kann ich es ihm bieten?

„Ich habe keine andere Wahl,“ sage ich.

„Wahrscheinlich nicht,“ mutmaßt Mika.

„Du kannst austeilen, aber kannst du auch einstecken?“ will Mika wissen. Ich schweige. Ich habe eine dunkle Vorahnung. Ich habe ein mulmiges Gefühl.

„Lass uns,“ entscheidet Mika und er verlässt tatsächlich die Haltestelle. Wir schleichen durch die Nacht, durch die Stadt. Vorbei an überdrehten Teenagern, versoffenen Gestalten und Pseudo-Freigeistern.

Mika hält vor einer Telefonzelle.

„Dass es so etwas noch gibt,“ wundere ich mich. Wie lange ist mir schon keine Telefonzelle mehr aufgefallen.

Mika wählt eine Nummer. Hat er überhaupt bezahlt? Wie bezahlt man überhaupt an einer Telefonzelle?

„Ja, ich habe da einen vielversprechenden Kerl. Ende 20 oder Anfang 30. Weißt ja, im Schätzen bin ich nicht so gut. Ist keiner dieser Schönlinge und auch kein verrückter Russe,“ höre ich Mika sprechen. Danach noch ein paar Laute und ein bestätigendes „Gut“. Dann dreht sich Mika wieder zu mir. Ich schaue ihn fragend an.

„Wir werden in 15 Minuten abgeholt,“ entgegnet Mika.

„Von wem?“ will ich wissen.

„Stell einfach keine Fragen. Ich erkläre dir alles Notwendige, wenn es an der Zeit ist.“

Mika greift in seine Hostentasche. Er zieht ein Päckchen mit Schnee heraus. Er verteilt den Stoff auf seiner Hand. Dann zieht er ein.

„Du musst klar sein. Ist die Vorgabe,“ erklärt Mika. Ich kriege nichts ab.

Vorstellungen über die nahe Zukunft. Was werde ich tun müssen? Sex mit einer Alten? Sex mit einem Kerl? Sex mit einem Tier? Sex zur Unterhaltung von Perversen?

Ein blauer Multivan fährt vor. Mika zieht die Tür auf. Der Fahrer ist ein bulliger Kerl, mit wenigen dunkel schwarzen Haaren. Seine Herkunft ist nicht einzuordnen. Libanese? Türke? Deutscher? Italiener? Keinen blassen Schimmer.

„Die Flasche ist für euch,“ erklärt der Fahrer. Mehr sagt er nicht. Mika stürzt sich auf den Bourbon. Trinkt hastig.

„Du nur einen kleinen Schluck,“ meint Mika. Ich setze an und schon hat mir Mika die Flasche wieder aus der Hand gerissen.

„Auf dem Boden liegen irgendwo zwei Masken. Streift euch die bitte über. Und so, dass ihr wirklich nichts seht, verstanden?“ meint der Typ. Seine Stimme macht Angst. Auf seine Stimme hört man. Mika und ich suchen die Masken. Sie sind schwarz. Wir streifen sie über. Wir sehen nichts.

Ich spüre, wie der Wagen hält, anfährt, wieder anhält. Das elektronische Fenster wird heruntergelassen. Jemand steigt vorn zum Fahrer. Es werden keine Worte gewechselt. Wir rollen. Durch das Schwarz der Maske dringt grelles Licht.

„Ihr könnt die Masken runternehmen,“ erklärt der Fahrer ruhig. Ich sehe mich um. Eine Halle. Eine Produktionshalle. Es sieht neu aus. Es sieht aus, als würde hier am Tag gearbeitet werden. Und nachts?

Was geschieht hier zu Feierabend? Pornos, Morde? Etwas Anderes will mir nicht einfallen. Soll ich jemanden umbringen? Soll ich jemanden vor den Augen anderer umnieten? Oder werde ich selbst verstümmelt? Was für eine perverse Scheiße findet hier statt?

Wo sind die Ausgänge? Wo kann ich fliehen? Wo bin ich hier?

„Hier kommst du erst nach erledigter Arbeit heraus,“ gibt mir Mika zu verstehen. Er gönnt sich wieder den Bourbon. Er reicht mir die Flasche für einen kleinen Schluck.

Der Fahrer und sein kleiner Kumpel führen uns in einen Raum. Ein Computer steht dort. Ein Schreibtisch und zwei Schränke. Eine weitere Tür, an welcher ein Kalender von 2018 klebt. Der September ist aufgeklappt. Eine Blondine mit gebräunter Haut streckt sich der Sonne entgegen.

„Ausziehen,“ fordert der kleine Typ von mir. Er ist keine 1,65 Meter groß. Sein Gesicht ist vernarbt. Seine Augen giftig.

„Ganz?“ stammele ich.

„Bis auf die Unterhose,“ erklärt der Typ.

Ich stehe da. Nackt bis auf die Shorts. Meine Brustwarzen sind hart. Mein Penis fast verschwunden. Ich rieche nach Schweiß. Ich rieche nach Angst.

„Er hat keine Ahnung, nicht?“ will der kleine Typ von Mika wissen.

„Er hat keine Ahnung,“ bestätigt Mika.

„Kläre ihn auf!“ fordert der kleine Typ von Mika.

„Siehst du die die Tür dort?“ will Mika wissen.

Ich nicke.

„Dahinter warten fast 50 Kerle,“ erklärt Mika. Ich schlucke. Was für eine kranke Scheiße geht hier ab.

„Da wird auch ein Typ auf dich warten. Keine Ahnung wie groß, keine Ahnung wie stark, keine Ahnung wie alt,“ sagt Mika weiter. Und ich habe keine Ahnung, was es mir sagen soll.

„Der Kerl wird versuchen, dich umzubringen. Der Kerl wird zeitgleich aus einem anderen Raum stürmen. Er wird auf dich losrennen, dich niederschlagen wollen. Es geht für ihn um seine Freiheit,“ meint Mika.

„Und für mich? Um was geht es für mich?“ will ich wissen. Mika grinst.

„Noch 10 Sekunden,“ brüllt der Kurze.

„5000 Euro,“ flüstert mir Mika ins Ohr. Dann schlägt er mir auf die Schulter. Die Tür mit dem Kalender geht auf. Ich werde hindurch geschoben. Brüllende Menschen, Lärm, Schreie. Ich orientiere mich. Ich habe meinen Punkt gefunden. Ich sehe einen nackten Oberkörper. Er stürmt auf mich zu. Ein Schlag ins Gesicht. Alles brennt. Ein Schlag auf den Kopf. Alles dreht sich. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich raste aus. Ich sehe rot. Ich erwische den Typ mit einem Haken unterm Kinn. Er geht zu Boden. Er liegt dort. Er rührt sich nicht.

Die Menge tobt. Die Menge schreit. Zwei Kerle schleifen den Besiegten weg. Er sah jung aus. Keine Zwanzig. Er sah abgemagert aus. Kein 6o Kilos. Deshalb hat ihn mein Schlag auf die Bretter geworfen. Er sah aus wie ein Araber.

Mika zieht mich beiseite. Der kleine Typ drückt uns zurück in den Raum, in welchem ich mich umziehen musste.

„Hier ist eure Kohle. Zieh dich zügig an und dann weg von ihr. Im Wagen zieht ihr gleich eure Masken auf, ja? Ich will keinen Ärger,“ gibt er zu verstehen.

Mika teilt den Haufen Geld in zwei Teile.

„Vermittlungsgebühr,“ erklärt er und reicht mir 5000 Euro. Mein Vermieter wird ein halbes Jahr die Fresse halten.

Der Multivan hält unweit der Stelle, wo er uns eingesackt hatte.

„Gehen wir noch feiern?“ fragt Mika.

Ich schüttle den Kopf.

„Das kannst du öfters haben,“ sagt Mika.

Ich verschwinde. Das brauche ich nicht öfter. Ich denke an meinen Gegner. Wer ist er? Wie geht es ihm? Warum hat er sich mir in den Weg gestellt? Welche Last hat er zu ertragen? Könnte ich ihm mit der Hälfte helfen?

E-Scooter rasen an mir vorbei. Ich fühle den Batzen in meiner Hosentasche. 5000 Euro. 5000 Euro und ich bin allein in der Stadt. Allein in der Dunkelheit. Allein in einem unbelebten Stadtteil. Allein im Industriegebiet. Ich beginne zu laufen. Ich renne. Ich haste.

Ein Wagen überholt mich. Er bleibt 50 Meter vor mir stehen. Mein Herz schlägt.

„Kann ich dir helfen?“ brüllt mir eine tiefe Stimme aus dem Wagen entgegen. Ich schlucke. Dann sehe ich die TAXI-Beleuchtung auf dem Dach.

„Einmal nach Hause,“ entscheide ich. Ich nenne ihm die Straße.

„Warum so schnell unterwegs? Scheiße gebaut?“ will der Fahrer wissen.

„Schiss gehabt,“ antworte ich. Er mustert mich.

„Siehst gar nicht aus, als müsstest du Schiss haben. Siehst eher nach Scheiße gebaut aus,“ wirft er mir entgegen.

„Manchmal irrt man sich,“ sage ich.

Wir halten vor dem Block meiner Wohnung. Ich fummele einen Schein aus meiner Hosentasche. Ein 50er.

„Stimmt so.“

„Dafür habe ich nichts gesehen oder gehört,“ sagt der Taxifahrer. Er verschwindet.

Ich eile das Treppenhaus empor. Zweite Etage. Schlüssel ins Schloss. Tür auf und leise wieder zu. In die Küche. Ich zähle die Scheine. 4950 Euro. Dazu 2 Euro. Die Miete ist sicher.

Glas mit Wasser befüllt. Ich schnappe mir die Tablettenbox. Lege die 6 Pillen für die Nacht in meine Handfläche. Öffne die Tür von Beas Zimmer.

„Bea, deine Medikamente,“ wecke ich sie wie jede Nacht. Mechanisch öffnet sie erst die Augen, dann den Mund. Ich lasse die Tabletten der Reihe nach hineinfallen. Nach zwei Pillen ein Schluck Wasser. Zweimalige Wiederholung. Dann verschwindet sie wieder in ihren Träumen.

Ich bleibe wach.