Auf Kipp

Es riecht nach Urin. Bestimmt kurz nach der letzten Runde abgelassen. Denn wir lassen das nicht da. Das ist wie ein ungeschriebenes Gesetz. Der Gestank ist beißend. Das übersieht man nicht. Man weiß, was man da den Kollegen hinterlässt. Traue ich Moritz und Karin aus der Frühschicht auch nicht zu. Die sind nicht so. Wäre eher etwas für Sonja oder diesen Holger. Was in den letzten Jahren so bei uns angefangen hat. Unfassbar. Die sind alle nicht ganz sauber. Nicht vertrauenswürdig. Nicht gründlich.

Ich bin gründlich. Und sehr genau. Ich ziehe mir die Einweggummihandschuhe über. Dann rolle ich die Frau zur Seite. Unter ihr ist alles feucht. Die Windel ist voll. Gelb schimmert durch das Weiß. Stechender Geruch. Alter Urin gepaart mit Medikamentenresten.

Ich lasse sie wieder zurückrollen. Sie öffnet die Augen. Sie schaut mich an. Sie nimmt mich zur Kenntnis. Sie sagt nichts. Sie verzieht das Gesicht nicht einmal. Sie starrt einfach.

Ich lege mir alles zusammen. Bettzeug. Windel. Desinfektionsspray und so. Dann ran. Windel an den Seiten geöffnet. In den Müll. Frau trocken gemacht. Bettlaken an einer Seite ab. Umgeschlagen. Frau auf die Seite ohne Laken. Bettlaken auch dort ab. Neues Bettlaken rauf. Frau wieder auf die andere Seite. Bettlaken. Frau zurück. Frau die neue Windel um. Frau Bettdecke rüber. Frau ihren Trinkbecher angeboten. Frau hat nicht reagiert. Trinkbecher zurück. Fenster auf Kipp. Haken auf meiner Liste bei der Frau und den Tätigkeiten. Heraus aus dem Zimmer.

Nächster. Bei dem ist nicht viel los. Der hat nen Katheter und ne Sonde. Atmung überprüft. Ich höre. Es raschelt. Fenster auf Kipp. Wieder Haken auf der Liste.

Am Ende des Flurs brennt die rote Signalleuchte. Ich gehe hin.

„Schnell. Die kommen. Die kommen alle. Mädchen, wir müssen packen,“ sagt die Frau. Sie sitzt in ihrem Nachthemd aufrecht im Bett. Zerzauste Haare.

„Beruhigen Sie sich,“ meine ich. Ich greife mir eine der Beruhigungspillen.

„Einmal Mund auf,“ fordere ich. Die Frau gehorcht. Sie kennt das.

„Und jetzt schlucken,“ meine ich.

Sie macht es. Ich reiche ihr einen Schluck Wasser. Den nimmt sie. Dann legt sie sich wieder hin als wäre nichts gewesen. Ich nehme ihr den Schalter für die Signalleuchte aus der Hand. Lege diesen wieder beiseite, sodass sie nicht ran kann. Da waren noch bis spät in den Abend Angehörige bei ihr. Die müssen ihr das in die Hand gedrückt haben. Die wissen nicht, dass es für uns ist. Falls wir Unterstützung brauchen. Kann man denen auch nicht verklickern. Verstehen die einfach nicht. Noch kurz Fenster auf Kipp. Und dann die Haken. Etwas früher als auf Liste.

Nächste Zimmer. Keine Regung. Kein Atem. Ich fühle nach dem Puls. Kein Puls. Fenster auf Kipp. Zeitpunkt in die Liste eingetragen. Wieder raus und in unser Zimmer. Telefoniere. Mareike und Sascha schauen mich dabei an.

„Frau Dobler?“ will Sascha wissen.

„Ja,“ antworte ich.

„Da hätte ich drauf gewettet,“ meint Sascha. Ich nicke. Ich greife mir meine L&M. Raus auf den Balkon. 

Kaffee-Latte

„Und dieser Jan. Der ist ein Lachs. So ein richtiger. Schön trainierte Arme,“ erzählt Nadine. Nadine erzählt immer von den Typen der Stadtverwaltung. Da muss einer besser aussehen als der andere. Für Nadine ist es so. Man ist immer so schön wie der Vergleichswert. Für Nadine ist ihr Vergleichswert Christian. Ihr Ehemann. Bierbauch. Haarausfall. Träge.

„Bei mir gibt es nur alte Knacker,“ meine ich.

„Aber deine Kollegen? Die müssen doch Arme haben. Die schieben doch den ganzen Tag Menschen rum,“ wirft Nadine ein.

„Mache ich auch. Und habe ich Arme?“ frage ich.

„Ein bisschen zugelegt hast du schon,“ ärgert mich Nadine.

Die Bedienung kommt. Wir bestellen. Nadine bestellt etwas, was ich nicht kenne. Ich bestelle klassisch.

„Eine Latte,“ sage ich.

„Oh, ja,“ setzt Nadine an. Sie beleckt sich die Lippen und mustert die Bedienung. Ist ein junger Kerl. Macht wahrscheinlich Abi oder hat gerade angefangen zu studieren. Noch mehr Junge als Mann. Er gibt cool die Bestellung ein. Dann haut er ab.

„Du bist so bescheuert. Der könnte unser Sohn sein,“ werfe ich ein.

Nadine wird wieder ernst. Sohn und Kinder. Falsches Thema.

„War nicht so gemeint. Habe nicht nachgedacht,“ gestehe ich.

„Kein Ding. Kannst du ja nichts dafür. Ist halt scheiße,“ sagt Nadine.

„Gibt es da was Neues?“ frage ich. Ich greife über den Tisch nach ihrer Hand.

„Ne, wir wissen es nicht. Liegt es an ihm? Liegt es an mir? Steht in den Sternen. Nur eins steht fest. Die sind nur kurz da und dann nicht mehr. Wollen einfach nicht in mir bleiben,“ erzählt sie.

„Tut mir so leid,“ füge ich an.

„Und dieser Schmerz wiederholt sich immer wieder. Ich will das nicht mehr. Man freut sich und dann zerplatzt der Traum und verwandelt sich zum Alptraum. Da ist erst etwas Lebendiges. Und dann etwas Totes. Und dieses Entfernen…,“ sagt Nadine. Dann schweigt sie.

Die Bedienung bringt die Getränke.

„Und die Latte,“ sagt der Typ. Dabei grinst er uns an.

„Verpiss dich,“ wirft ihm Nadine entgegen.

Krustentier

„Ist mein erstes erstes Date zu Mittag,“ sagt Nils. Er findet sich dabei lustig. Ich kann nicht lachen. Ich muss in 2 Stunden arbeiten. Dates vor der Arbeit sind unentspannt. Weiß ich eigentlich. Aber dieser Nils war auf Tinder einfach zu verlockend. Den will ich mir nicht entgehen lassen. Aber er ist irgendwie dumm. Hübsch, aber dumm. Die schönen und schlauen Männer sind alle vom Markt. Es gibt nur noch die mit ner Macke. Ich hoffe immer auf ne kleine. Ein kleiner Dachschaden ist ganz niedlich, aber so ein Totalschaden, den man bei der ersten Fahrt nicht bemerkt. Nö.

Apropos Probefahrt. Erste Dates vor der Arbeit sind blöde. Ein kleiner Fick davor dafür charmant. Wenn er weiter so doof ist, kürze ich einfach ab. Das ist das Schöne in unserem Alter. Sex ist so unkompliziert. Wir sind beziehungsunfähig, aber Profis im unverbindlichen Sex.

Er bestellt uns Nudeln mit Garnelen.

„Mit extra Knoblauch,“ ruft er der Bedienung hinterher. Er lächelt mich an. Er erwartet eine Reaktion. Kriegt er nicht.

„Das ist mein erstes Ausscheidungskriterium. Mag sie Knoblauch oder nicht,“ erzählt es mir Nils ohne nachfragen zu müssen. Ich gehe darauf nicht ein. Ich versuche ihn so richtig heiß zu finden. Ficke ich ihn oder lasse ich mich ficken. Oh, irgendwie bahnt sich ein Wutfick an. Vielleicht sogar ein Hassfick.

„Und hey, du hast die erste Prüfung bestanden,“ fährt er fort. Er lächelt. Er nippt an seinem Wasser. Natürlich still. Er ist Sportler. Er ist Fitnesstrainer. Deshalb diese Arme. Deshalb auch etwas dumm. Oh, ich denke in Klischees. Aber bei dem passt es.

„Bist du auf die zweite gespannt?“ redet er weiter. Ich entscheide mich für nen Hassfick. Noch vorm Essen. Ich schlüpfe mit meinem linken Fuß aus meinen Ballerina. Ich bewege den Fuß von seiner Wade Richtung Oberschenkel.

„Wow,“ sagt er.

Jetzt bin ich an seinem Schwanz. Mein großer Zeh tippt auf seine Eichel. Ein Linksträger.

„Test zwei und drei und vier gleichzeitig bestanden,“ faselt Nils. Er ist nervös. Er ist aus seinem Konzept.

„Ich will vorm Essen etwas anderes,“ sage ich. Schaue ihn an. Beiße auf meine Lippen.

„W, w, was?“ stottert er.

Mein Smartphone leuchtet auf. Es tanzt. Aber kein Ton. Ich will es ignorieren. Schaue aber drauf. Praxis Scharawin. Meine Ärztin.

„Sorry,“ sage ich zu Nils. Nehme mein Smartphone in die Hand. Mir ist schwindelig.

„Ja?“

„Frau Scharawin. Frau Dendler?“

„Ja?“

„Ihre Werte sind da.“

„Warten Sie einen Augenblick,“ sage ich. Ich stehe auf. Ich signalisiere Nils, dass ich einen Moment brauche.

Dann bin ich vor dem Restaurant. Draußen. Allein.

„Jetzt habe ich Ruhe.“

Meine Ärztin geht auf den Befund ein. Sie ist eine Mischung aus Distanz und doch wieder nahe. Das macht alles noch schwieriger. Alles dreht sich noch mehr. Alles ist so… Ich kann es nicht beschreiben.

„Ich komme heute Nachmittag in die Praxis,“ beschließe ich.

Sie sagt noch irgendetwas. Aber ich suche schon jemanden, den ich anschnorren kann. Da habe ich auch schon einen. Er gibt mir Feuer.

„Danke,“ sage ich. Dann atme ich ein. Alles dreht sich weiter.

Kippe aufgeraucht. Nils auf Toilette gezogen. Ficken. Erst danach ist Zeit für Krebs.