Ein „Guten Morgen“ folgt auf das Nächste. Salvenartiges Grüßen. Freundliche Masken. Eine gleicht der anderen. Hannah stürmt auf ihren Platz. Der linke Schuh fliegt durch den Flur. Der rechte hinterher. Hausschuhe drüber. Ein Kind weint. Ein Kind erzählt. Ein Kind bockt. Eltern reden zu laut. Eltern sind gestresst. Der Fußballprofi bringt sein Kind heute selbst. Ein Hemd. Seine Frau der Wahnsinn. Verkehrte Welt. Welt der Scheine.
In das Spielzimmer. Kissen fliegen umher. Autos rollen. Plastikdinge sprechen. Es wird geflitzt, gerutscht, gebrüllt. Ungezähmtes Leben.
Die Erzieherinnen über Hannahs leichten Schnupfen informiert. Kuss für Hannah. Heraus aus der Einrichtung.
Ich werde gerufen. Der Elternvertreter hält mir einen Zettel entgegen. Kontaktdaten. Für Absprachen wie Geschenke und besondere Fälle. Er klagt mir sein Leid. Gesetz zur Datenschutzverordnung. Fußballprofis. Ökoeltern. Privatsphäre.
„Ein riesiger Aufwand wegen einer blöden Liste. Ich laufe jetzt schon drei Wochen damit rum.“
Ich trage meine Daten ein. Blick auf die Uhr. Der nächste Bus kommt in 5 Minuten.
„Marvin?“ werde ich wieder angesprochen. Schmales Gesicht. Spitze Nase. Kaum noch Haare. Grüne Augen. Eine männliche Hexe. Dazu einen leichten Bauchansatz. Meine Körpergröße. Ich kenne das Kerlchen. Schule? Studium? Stadion? Party? Basketball?
„Wir haben uns seit dem Abiball nicht mehr gesehen! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
Er fällt mir wieder ein. Claas. Gemeinsam Leistungskurs Deutsch. Gemeinsames Schwänzen Grundkurs Mathe im Dreiwochen Rhythmus. Statt Logarithmen und Stochastik Ärsche am Kreuzheide Schulzentrum, Bier trinken und Körbe werfen. Er war das Großmaul. Ein Märchenerzähler. Haben wir uns deshalb aus den Augen verloren?
„War nie an einem anderen Ort,“ sage ich.
„Marvin, Marvin. Das freut mich ja, dich wiederzusehen.“
Claas erzählt von der Bundeswehr. Vom Dualen Studium. Von seinen vielen Freundinnen. Von seiner Frau.
„Manchmal juckt es noch richtig. Vor allem bei den ganzen Assistentinnen. Da würde ich gern mal ran. Aber durch den Kleinen überlegt man dann doch und lässt die Finger von den Weibern.“
Er redet über die Anziehungskraft von Erfolg. Er redet über sein Haus. Er redet über sein 1500qm Grundstück. Er redet über gutes Essen.
„Nichts geht über ein Steak. Ich könnte für Kobe Rind sterben.“
„Ich bin Vegetarier,“ sage ich.
„Echt? Na ja, Hauptsache nicht Veganer. Wenn ich diese Moralapostel schon sehe.“
Mein Diensttelefon klingelt. Ich ignoriere es. Claas zeigt mir seinen Wagen. SUV. Mit allem Schnickschnack. Er liebe Autos. In seiner Garage stünde noch ein Jaguar irgendwas. Aber sein Kleiner ist im SUV besser aufgehoben. Jeder überlegt sich zweimal, ob man auf sein Recht im Straßenverkehr bestünde. Im SUV sei man wie in einer sicheren Blase. Selbst Radfahrer würden ihn immer passieren lassen. Ich hasse SUVs. Ich hasse SUV Fahrer. Ich verachte Claas für seine Ignoranz.
„Wo steht deine Karre?“
„In der Werkstatt. Ich bin mit dem Bus hier.“ Verschweige ich, dass ich den Lappen los bin.
„Echt? Wie lange bin ich schon kein Bus mehr gefahren?“
Claas sinniert über den Lärm, den Geruch, die Unpünktlichkeit.
„Wo bist du jetzt eigentlich gelandet?“ will er wissen.
Ich erzähle von NR Europe.
„Echt? Ihr macht doch auch für uns die IT, nicht?“
Claas erzählt über seine Erfahrungen mit der von uns betreuten Störungshotline. Er schimpft auf die IT im allgemeinen. Kritisiert die Ausstattung seines Unternehmens. Den Netzausbau in Deutschland.
„Und die haben uns schon wieder angegriffen. Einfach so das Verteidigungsministerium gehackt. Waren bestimmt die Russen oder die Chinesen. Stand gerade bei spiegel-online.“
Wieder klingelt mein Diensttelefon. Eine Ausrede. Ich verabschiede mich. Claas würde sich freuen, wenn wir uns öfter sehen. Er würde uns gern zu sich einladen. Neuer Smoker.
„Vegetarier,“ erinnere ich.
Er würde schon etwas Leckeres finden. Ich solle mal mit meiner Frau darüber reden. Endlich lösen wir uns. Endlich muss ich ihn nicht mehr ertragen. Wie konnte so ein Kerl so einen Erfolg haben?
Die dreisten Arschlöcher bekomme immer alles. Der Planet gehört den Rücksichtslosen, Blinden und Selbstsüchtigen. Sie lassen ihr Stück vom Kuchen nicht los und schenken uns ehrlichen Bürgern nur wenige Krümmel. Ich könnte kotzen. Warum bin ich nicht so ein selbstverliebter Egomane?
Es knallt stumpf. Viele Schreie. Viele weitere Schreie.
„Einen Notarzt!“
„Wer hat ein Handy?“
„Ich wähle schon.“
Ich sehe Claas seinen SUV. Davor ein kleiner SKODA Citigo. Dazwischen ein Radfahrer. Eingequetscht. Reglos. Leblos. Im SKODA liegt eine junge Frau auf dem Lenkrad. Auf dem Rücksitz weint ein Kind.
Claas springt aus dem Auto.
„Scheiße,“ schreit er. Er scheint wohl auf zu sein. Sein SUV hat ihn geschützt.
„Die haben mir eiskalt die Vorfahrt genommen!“ behauptet er.
„Das habt ihr doch alle gesehen!“
Niemand bestätigt seine Aussage. Ich werde langsamer. Will nicht in die Sache hineingezogen werden.
Sirenen aus der Ferne. Sirenen kommen näher. Rettungswagen, Polizei und Feuerwehr am Unfallort. Claas sieht mich.
„Marvin! Marvin, du kannst bestätigen, dass ich keine Schuld habe,“ ruft er mir zu.
Die Gaffer schauen zu mir. Die Zeugen schauen zu mir. Die Bullen schauen zu mir. Ich bin in die Sache hineingezogen. Verdammt.
Ich lese ein BITTE von Claas Lippen. Dann werde ich in eine Polizeistreife gezogen. Ein Bulli. Tisch. Vor mir Eine Polizistin.
„Was haben Sie gesehen?“
Nichts? Oder Claas Unschuld? Ich wäge ab. Ich könnte ihn für immer loswerden. Er könnte mir für immer dankbar sein. Ein Chance. Finanziell? Für die Karriere? Wenn seine Geschichten nur Gerede waren? Der Wagen spricht für ihn! Entscheide dich Marvin. Entscheide dich.
„Herr Raguse?“ spricht mich die Polizistin an.
Ich schaue aus dem Fenster. Ein Bestattungswagen fährt vor. Der Radfahrer wurde zwischen den Wagen heraus gezogen. Die junge Frau aus dem Auto geschnitten. Die Körper liegen beide auf der Straße. Sie werden angehoben. Sie werden von zwei Männern in Anzug in Särge gelegt. Das Kind ist im Krankenwagen. Es weint immer noch.
„Herr Raguse? Ihre Aussage!“
Aus „Hurra, meine Welt geht unter“ ein unveröffentlichtes Manuskript von Timo Quante