Die grau-braunen Schornsteine des Kraftwerkes rauchten wie vier rostige Nägel, die man direkt aus der Glut eines Lagerfeuer gezogen hatte. Der Wind ließ den Qualm aus Kohle und anderen Energieträgern mal nach Norden, dann nach Osten und zu guter Letzt nach Westen wehen. Für eine einzige Richtung konnte sich die Naturgewalt an diesem grauen und kalten Morgen nicht entscheiden. Genauso durcheinander stand Jonas Coers an der metallenen Tür des Wagons der halb privatisierten deutschen Bundesbahn. Mit der einen Hand hielt er sich in dem ruckeligen Abteil an einem schon porösen Plastikriemen fest und mit der anderen versuchte er seinen mit Aufklebern von Palma de Mallorca, ein Herz für Tiere und Lufthansa dekorierten Koffer, ein Erbstück seiner Eltern, an Ort und Stelle zu behalten. Als der Zug auf dem Gleis einrollte und ein erschöpftes Stöhnen von sich gab, wusste Jonas noch immer nicht, ob er wirklich gewillt war, den Regionalexpress zu verlassen und damit wieder in seine Vergangenheit einzutauchen. Nach einigen Abwegen der Pros und Contras und der Tatsache, dass ihm das Ticket seine geliebte Bukowski Sammlung gekostet hatte, wagte er den Schritt in die Kälte, wo der bissige Wind seine Haare verwehte und Jonas herablassend ins Gesicht spuckte, so dass er sich von den erniedrigenden Böen abwenden musste. Was er nun vor Augen hatte, ließ ihn mehr zittern als die niedrigen Temperaturen und bewegte ihn noch einmal fast dazu, kehrt zu machen und sich wieder im Zug zu verstecken.

Das große, runde, weiß und blaue Firmenlogo mit dem V und dem W und dem gigantischen Backsteingebäude der typischen nationalsozialistischen Architektur ließ ihn erstarren. Jonas schluckte tief und rang nach Luft. Er brauchte einen Augenblick, um sich den Grund seiner Rückreise nach Wolfsburg ins Bewusstsein zu rufen, bis er endlich seine Beine in Richtung des Ausgangs bewegen konnte. Und selbst dafür musste Jonas unendlich viel Kraft aufbringen, es schien, als würde sein Körper instinktiv versuchen, ihn zu manipulieren. Ein Sabotageakt zur eigenen Sicherheit.

Vor dem kleinen, aber modernisierten Bahnhof mit einem Kachelmuster eines dieser höchst merkwürdigen, halb architektonischen Künstler, auf deren, mit Verlaub, Werke die provinziellen Stadträte sich gehörig einen von der Palme wedelten, kramte Jonas in der Innentasche seines abgetragenen, schwarzen Mantels, welchen er schon weit vor seiner Abreise aus Wolfsburg in dem einzigen H&M Laden der Autostadt für einen fairen Preis, dank der billigen chinesischen Arbeitskräfte, ergattert hatte. Der erste Zug an der Marlboro ließ Jonas fast sein vor einer halben Stunde verschlungenes belegtes Brötchen mit Salami, Gouda und einer bereits leicht gelblichen Remoulade seine Speiseröhre entlang in die unnatürliche Richtung strömen. Der Tabakflash versetzte Jonas einen kräftigen Punch auf die Schläfe, so dass Jonas wenige Sekunden glaubte, dass sein verdammter Schädel ein Squashball bei einer Partie zweier Abteilungsleiter sei. Das Nikotin zeigte seine gewaltige und zügellose Wirkung, wenn man dieses nette und euphorisierende Gift mehr als ein halbes Jahr vernachlässigt hatte. Aber Jonas wusste, dass die verdammten Kippen der einzige Strohhalm sein würden, an welchen er sich während seines Aufenthalts in seiner Geburtsstadt klammern konnte, also steckte er sich an dem Stummel seiner ersten Zigarette gleich die zweite an, während er in der straßenbahnfreien Stadt auf den muffigen Bus wartete. Im Bus selbst schleppte Jonas seinen dünnen und mageren Körper durch den selbst für ihn zu engen Gang, vorbei an einer Harz 4 empfangenen zu früh Gebärenden mit drei Kindern, einer Fußballmannschaft von pubertierenden Mädchen mit übermäßigen Make – Up, aufgetragen durch die Stylingtipps aus den Werbesendungen nach Heidi Klums Germany´s next Topmodel, viel zu kurzen Röcken und viel zu aufreizenden Strumpfhosen, so dass Jonas Mitgefühl mit jedem Schulmädchenvergewaltiger bekam, wofür er sich, um sein Gewissen zu besänftigen, schnell über harte und faire Strafen dieser perversen Gattung der Menschheit ausließ. Bis er sich auf seine vier Buchstaben platzieren konnte, galt es für Jonas noch der Beschallung eines italienischen Mp3 – Trägers aus dem Weg zu gehen und die salzhaltige Luft eines von McDonalds genährten und mit einem Turnbeutel bewaffneten Kindes der Sorte Eric Cartman zu unterwandern. Mit einem kräftigen Ruck gelang es Jonas, seine Reisetasche auf seinen Nebenplatz zu schwingen. Dabei landete das Gepäckstück jedoch so ungünstig, dass Jonas die Tasche hätte drehen müssen, um an seine Reiselektüre, Jonathan Franzen die 27ste Stadt, zu gelangen. Aus purer Faulheit zog er es vor, aus dem Fenster zu schauen und die triste Innenstadt zu betrachten, wo an anderen Haltestellen noch mehr Teeniegören wie thailändische Prostituierte herumlungerten, coole und von ihren Eltern bevormundete Jungs an jeder Laterne und jedem Busfahrplan lehnten und sich aufführten wie ein Zuhälter aus den kalifornischen Ghettos und weitere, nach dem erwerbstätigen Sprachgebrauch, erwerbslose Sozialschmarotzer, ein vom Discounter in Plastikflaschen gefülltes Bier sich in den Schädel schraubten. Ein gewohntes Bild einer Innenstadt, wusste Jonas, denn er kannte dieses Bild extremer, ausgereizter und mächtiger vom Berliner Alexanderplatz her. Nur schenkte er diesem platten und uninspirierten Verhalten in einer nichts sagenden und einfältigen Stadt wie Wolfsburg mehr Verständnis als in einer florierenden und reizüberflutenden Metropole wie der deutsche Hauptstadt. Ein Grund warum Jonas vor gut über einem halben Jahr seine sieben Sachen zusammen gepackt hatte, sich eine billige Bleibe in Berlin Pankow suchte und dort eigentlich mehr Zeit an seinem bereits zehnjährigen PC auf Windows 98 Basis verbringen wollte als jemals ein Mensch vor ihm verbracht hatte. Schnell musste Jonas jedoch erkennen, dass im Leben nichts so verlaufen sollte, wie man es geplant hatte, vor allem nicht, wenn der Plan im Kopf so ausgetüftelt erschien wie die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, aber in der realen kapitalistischen und egozentrischen Welt der Einführung von demokratischen Werten in Somalia glich, schlichtweg unmöglich. Jonas flüchtete nach Berlin um Wolfsburg zu entkommen und sich so nicht seinen Fehlern stellen zu müssen. Er wusste, dass er einen Haufen von Missgeschicken fabriziert hatte. Hätte der Volkswagenkonzern solche soliden Fahrzeug produziert wie Jonas Fehltritte gelangen, die Aktien wären an Wert an die Höhe des babylonischen Turmes gestiegen. Einer seiner spektakulärsten und fatalsten Entscheidungen war wohl dann auch die Idee, sein komplettes altes Leben aufzugeben und sich nur dem Schreiben zu widmen. Mit nur, meinte Jonas wirklich alles. Sozialkontakte verschwanden wie die einzige Flasche Wodka auf einer dreißig Mann starken Party der russischen Amateurfußballmannschaft des FC Zenit Hannover, der einzige Kontakt zu Frauen war der auf unzähligen Streifen auf youporn.com und das Traineeprogramm des Wolfsburger Autoherstellers ließ Jonas ebenso fallen wie das Vorhaben sein politikwissenschaftliches Studium in einem Masterstudiengang über internationale Beziehungen zu vertiefen. Kurz um, er spülte sein gesamtes Leben die Toilette herunter, und damit er sicher gehen konnte, dass nicht einmal der kleinste Rest in der Porzellanschüssel hängen blieb, betätigte er die Spülung gleich ein zweites mal.

Ja, die Idylle der Kleinstadt bereitete Jonas schon seit jeher Kopfschmerzen. Er fühlte sich eingeengt und wie von der Stasi überwacht, nahezu jeder wusste über jeden ein Detail aus dessen Privatleben und befuhr jemand einen Weg abseits der gesellschaftlich genormten Hauptverkehrsstraße, musste er mit einem Führerscheinentzug rechnen, kurz um, als Träumer war man ein Außenseiter. Und wenn Jonas eines gewesen war, dann jemand, der selbst zu reger Tagesstunde mit offenen Augen seinen Gedanken hinterher schweifte. Trotzdem hatte Jonas einen breiten Bekannten- und Freundeskreis, doch jeder rollte mit den Augen, wenn Jonas über seine Zukunftspläne auspackte. Er hielt den Druck sich anpassen zu müssen, für den großen Autokonzern zu arbeiten, und dies noch zu einer geregelten Arbeitszeit, nicht aus und schon allein die Vorstellung, solch ein Leben bis zu seinem Tod führen zu müssen, ließen ihn einen Galgenknoten in einen dicken Strick legen. Jonas wollte schreiben. Deshalb Berlin. Denn in seiner Heimat fühlte er sich missverstanden und schrecklich allein. Es erschien Jonas, als würde ihn niemand verstehen oder ernst nehmen, wenn er über das Schreiben sprach. Er bekam zwar immer zu Ohren, dass man sein Hobby ausgesprochen interessant und mal als was anderes betrachtete, aber im Grunde konnte niemand sein Leid als Schriftsteller nachvollziehen. Wenn Jonas am Wochenende bekümmert an einer Theke hing und Bourbon in sich hinein goss, erntete er nur einen schüttelnden Kopf seiner Freunde, wenn er als Grund für seine deprimierende Stimmung den Tod einer Figur oder den aussichtslosen Kampf seines Protagonisten sich in der Gesellschaft zu recht zu finden nannte. Es war das Leid eines Schriftstellers und dazu noch wesentlich schlimmer, das Leid eines unveröffentlichten Schriftstellers.  

Die ersten zwei Wochen in Pankow waren für Jonas auch ganz nach seinen Vorstellungen. Er schaffte es die noch nicht gelesenen Werke von Paul Auster zu verschlingen und jeden Tag mindestens vier Stunden auf die Tasten zu hauen. Nur schellte es an einem dieser unschuldigen Freitage an seiner Tür in der dritten Etage. Da Jonas gerade einen Absatz beendet hatte, entschloss er sich nach zu sehen. Beim Blick durch den Spion schlug sein Herz außerhalb des Taktes einen üblen Housebeat. Vor seiner Wohnung stand eine junge Frau, die ihn an seine Prinzessin erinnerte. Auf der Stelle sprangen Jonas die Bilder seiner wundervollen und atemberaubenden Freundin ins Gedächtnis. Ihr Duft stieg in seine Nase, ihr Atem kroch seinen Rücken empor und ihre Augen blinzelten ihn so blau wie sonst nur der sommerliche Himmel es an einem warmen Maitag vollbringen kann an. Er öffnete die Tür und die braunen Augen der durchaus attraktiven Dame mit einem gewagten Ausschnitt, ließen Jonas zurückfallen. Mit einem Schlag wurde ihm wieder bewusst, dass er seine Prinzessin verlassen hatte. Es stach in der Brust und er lehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht im Türrahmen.

„Alles klar?“ fragte die hübsche Brünette und drehte sich zu einem weiteren weiblichen, nicht weniger bezaubernden Wesen mit leicht rötlichen Haaren, welches Jonas durch die Sicherheitsvorkehrung seiner Tür nicht wahrnehmen konnte.

Als Jonas nicht reagierte, wiederholten die beiden Frauen im Chor die vorher gestellte Frage. Jonas schüttelte sich kurz.

„Ja, tschuldigung. Bin wohl zu schnell zur Tür gerannt,“ stammelte Jonas, gewann dann aber wieder die Fassung zurück und erkannte nun endlich, was sich vor seinen Augen präsentierte: wundervolles Fleisch, verpackt in leichte Spaghetti – Tops, engen Röcken und Schuhen, welchen Mann einer Frau mit Vergnügen erlauben würde, im Bett anzubehalten.

„Ähm. Ich bin Maria.“

„Und ich Anne,“ sagte nun auch die mit der roten Mähne.

„Und… Äh, wie kann ich euch behilflich sein?“ wollte Jonas wissen und streckte seine Brust raus.

„Wir sind neu hier,“ meinte Maria, die Jonas tief in die Augen blickte.

„Oh, ich auch.“

„Studierst du etwa auch?“ fragte Maria. Studieren, erinnerte sich Jonas, das war einmal. Überfüllte Hörsäle, marode Einrichtungen, überlastete Dozenten und horrende Studiengebühren, alles Geschichte, wusste Jonas, wie meine Prinzessin, Wolfsburg und mein Job. Dann spürte Jonas wie ihn ein riesiger Schwall guter Laune überkam, er vermisste zwar seine Prinzessin, aber dafür hatte er die Freiheit zu schreiben oder besser, tun und lassen zu können, was er gerade machen wollte. Keine Zwänge, Erwartungen oder Gefallen, einfach nur schreiben, schreiben, schreiben und irgendwann, noch bevor seine Ersparnisse aufgebraucht wären, würde sich ein Verlag mit einem Scheck für eine hohe Auflage melden, waren seine wahnwitzigen und naiven Gedanken.

„So etwas in der Art.“

„Ach so.“

„Und was wolltet ihr nun?“ hakte Jonas nach.

„Wir geben heute Abend eine Einweihungsparty.“

„Schön, wird bestimmt etwas lauter,“ meinte Jonas.

„Ja… ähm und das war auch schon der Grund. Ähm, wir wollten nur kurz Bescheid sagen,“ stammelte Maria vor sich hin und betrachtete den gekachelten Boden im Treppenhaus.

„Okay, dann viel Spaß,“ gab Jonas bekannt und versuchte noch einmal ein Bild von den beiden Schönheiten in seinem Gehirn einzubrennen als Anne sich bereits schon zur nächsten Wohnungstür aufgemacht hatte. Aber Maria drehte ihren Apfelpo noch einmal um, so dass sich Jonas kurz erschrak.

„Ähm, da, ja.“

„Ja?“

„Wir dachten, dass du viel älter wärst als wir, aber jetzt, wo sich etwas anderes ergeben hat, da….“

„Da?“

„Da würde es mich, eh uns freuen, wenn du auch mal auf ein Bier vorbeischauen würdest. So auf gute Nachbarschaft und so,“ bot Maria sichtlich nervös an, aber nicht allein ihr Herz schlug schneller, auch Jonas spürte eine leichte Aufregung in seinem Körper, welche durch den Blick auf Marias pralle Brüste noch intensiviert wurde.

„Okay, soll ich irgendetwas mitbringen?“

„Bier haben wir da, wenn du etwas Härteres möchtest…“

„Gut, dann bis heute Abend.“

Darauf schloss Jonas hinter sich die Tür. Verdammt, sagte er sich, wann soll denn die verfluchte Party losgehen. Und schnurstracks riss er die Tür auf ein Neues auf. Das Wort süß gelang kurz in sein Gehör und dann schauten ihn wie auf frischer Tat ertappt Maria und Anne an. Alle Beteiligten liefen etwas rot an. Besonders Maria stand dieser Farbton ausgezeichnet.

„Wann geht’s denn los?“

„Um acht.“

„Danke. Bis dann.“

Als Jonas das Schloss rasten hörte, vernahm er ein leises Gekicher und dann noch einmal ein süß. Darauf trinke ich erst einmal ein Bier, beschloss Jonas.

Auf der Party im fünften Stock dröhnte die übliche Studentenmusik aus den Lautsprechern eines Soundsystems: Madsen, Maximo Park, Mando Diao. Jonas kannte weder die Texte, noch die Gitarrenriffs. Also schleifte er sich schnell vorbei an der Meute im Wohnzimmer und erkundigte sich bei einem Typen mit dicker Brille und zerzausten Haaren, wo er die Gastgeberin finden könnte. Er folgte dem Fingerdeut zur Küche, wo Maria mit Anne Eis aus dem Gefrierfach holte.

„Kannst du mir drei geben?“ sprach Jonas Maria an, die sich schnell zu Jonas wandte, da sie seine Stimme nicht sofort einordnen konnte.

„Oh, unser Nachbar. Hätte nicht gedacht, dass du vorbei schaust,“ entgegnete Maria Jonas. Ein kurzes Schweigen füllte den Raum, aber kein unerträgliches wie man es zwischen Menschen kennt, die sich nicht riechen können, sondern eher ein Schweigen wie es bei Personen zu vernehmen ist, welche sich soviel sagen möchten, aber der Wortgehalt vollkommen gleich ist, da ihre Zuneigung zueinander bereits in ihr Herz gemeißelt ist.

Maria wechselte einen komplizenhaften Blick mit Anne, die darauf zu Jonas sagte: „Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich habe dich vorhin gar nicht nach deinem Namen gefragt, oder kann mich nicht erinnern.“

„Jonas.“

„Jonas. Mmh. Hoffentlich kannst du mir verzeihen, dass ich es mir nicht gemerkt habe. Und glaube mir, Maria und ich haben uns deswegen schon fast in den Haaren gehabt, aber sie hatte dann wohl doch recht,“ gab Anne von sich und überließ Maria und Jonas in der Küche sich selbst.

Jonas lächelte Maria durchschauend an, aber die beiden sprachen nicht mehr über das kleine Spiel der Freundinnen um an Jonas Identität heranzukommen. Stattdessen füllten sie sich zwei Gläser mit Eis und dem Jack Daniel`s, welchen Jonas mitgebracht hatte und erzählten sich ihre Geschichten, obwohl vielmehr Maria von ihrem Leben berichtete. Sie erzählte, dass sie nach dem Abitur für ein Jahr zu ihrer Tante nach Sevilla gezogen sei um dort ihr erbärmliches Spanisch aufzufrischen. Denn ihre Mama war zwar Spanierin, lebte aber bereits seit fast dreißig Jahren in Deutschland, wo sie nur bei Streitereien mit ihrem Gatten, also Marias Vater, in ihre Muttersprache verfiel und Maria Spanisch fast nur aus Lehrbüchern kannte. Außerdem kamen Marias Hobbys zur Sprache, die sie leidenschaftlich verfolgte, obwohl sie sich keine Hoffnungen mehr machte, einmal berühmt zu werden, schließlich sei sie mit Anfang zwanzig doch schon zu alt, um eine erfolgreiche Tänzerin in einem bekannten Ensemble zu werden, aber, so versicherte Maria, hätte sie einfach Spaß am Tanzen und vor allem mache ihr die neue Arbeit, sie nannte ihre Freizeitbeschäftigung doch tatsächlich Arbeit, in einer Berliner Tanz- und Theatergruppe für Laien besonders viel Freude und verhelfe ihr, ihr Inneres auszudrücken und vom Studienalltag abschalten zu können, der als angehende Architektin mehr aus Lernen als aus zeichnerischer Kreativität bestand.

Mit jedem Wort von Marias Lippen verspürte Jonas immer stärker den Drang diese bezaubernde Frau zu küssen, zu fühlen und zu spüren. So überkam es ihn einfach und er drückte seinen Körper an ihren und sie begannen ihre Zungen miteinander spielen zu lassen.

Am Tag nach der Party wachte Jonas spät am Mittag in seinem Schlafzimmer auf. In seinen Armen hielt er die sinnliche Frau. Vorsichtig warf er einen Blick unter das Laken und musterte Marias bildhübschen Körper, ihre empor steigende Brüste, ihren flachen Bauch und die sinnlichen Rundungen um ihre Hüften. Jetzt, nach dem Erwachen, erschien ihm Maria noch wundervoller als zuvor und Jonas erahnte, dass er auf dem besten Weg war, sich in sie zu verlieben.

Nach dem nachmittäglichen Frühstück erkundete Maria neugierig Jonas Wohnung. Sie stöberte aufmerksam durch Jonas Aufzeichnungen und fragte ihn Löcher in den Bauch, die beide noch mehr erregten als in der vorherigen Nacht. Maria, weil sie es aufregend fand, mit einem ernsthaften Schriftsteller zu schlafen und Jonas, weil ihre Wissbegierde seine Leidenschaft entflammte. So fanden sie sich schnell in einander versunken auf dem Fußboden wieder.

Nach dem Akt setzte Maria ihre Entdeckungsreise fort. Mit ihren Fingern fuhr sie über die Buchrücken von Jonas Bibliothek. Bei einem besonders dicken Wälzer hielt sie inne und strich sanft über die ins weiße gestanzten schwarzen Buchstaben und zog das Mammutwerk aus dem Regal.

„Unendlicher Spass, kann ich mir vorstellen, bei so vielen Seiten! Da braucht man ja auch unendlich viel Zeit für. Wie ist es denn?“ wollte Maria von Jonas wissen als sie in David Foster Wallace Werk blätterte.

„Hab ich leider noch nicht gelesen. Keine Zeit gehabt und um ehrlich zu sein, hält mich der Umfang auch ein wenig davon ab, es zu lesen.“

„Mach mal und erzähl mir, von was es handelt.“

Und das tat Jonas dann auch. Unendlicher Spass von Wallace zog Jonas in seinen Bann. Wenn er sich nicht mit Maria traf um sich zu lieben, vertiefte er sich in die Lektüre und so bestanden die nächsten drei Wochen einzig aus leidenschaftlichen Sex mit Maria und Unendlicher Spass. Keine Schreiben an Verlage, kein Tippen auf der Tastatur und bis auf die paar lebensnotwendigen Einkäufe bei Lidl zwei Straßen weiter auch keinen Fuß aus dem Häuserblock. Die Welt bestand nur noch aus Marias und Jonas Wohnungen und die Bevölkerung aus diesen beiden Menschen und den Charakteren aus Unendlicher Spass.

Als Jonas das Buch Wort für Wort in sich aufgenommen hatte, schlug er es anmutig zu. Er war berührt. Er fühlte sich, als hätte er den Sinn des Lebens begriffenen, so klar und deutlich, aber doch so beschlagen und undurchsichtig wie ein Spiegel nach dem Duschen. Zeitgleich überkam ihn aber auch ein schweres Gefühl, welches ihn herunter zog wie die Strömung ein sinkendes Schiff auf die Tiefen des Ozeans. Er wusste von diesem Moment an, dass er nicht mehr schreiben konnte, weil er nicht mehr schreiben brauchte, weil jemand anderes bereits alles niedergeschrieben hatte, jede Gefühlsregung, jede Handlung, jede Geschichte und das nicht nur in einer ausdrucksstarken Sprache, sondern auch in einem einzigen Buch. Es erschien Jonas, als hielte die Welt an und einzig er allein konnte sich noch bewegen. Dabei sah die Realität ganz anders aus. Nicht die Welt blieb stehen, es war Jonas, der sich außerstande fühlte zu handeln. Das führte dazu, dass Jonas jede Leidenschaft aus seinen Knochen verlor und kein Interesse mehr an Maria zeigte. Jede Umarmung, jeder Kuss und jede Unterhaltung verwandelten sich zu einer unendlichen Qual. So verlief sich die kurze Beziehung von Maria und Jonas im Sande, mit ihr auch Jonas Ziele, Träume und seine Wirklichkeit. Jedoch lässt sich die Wirklichkeit nicht einfach davon treiben. Irgendwann erwacht sie aus dem Winterschlaf und packt einen wie der erste Frost, der nach einem lauen Herbsttag den Boden gefrieren lässt und jedes Wachsen unmöglich macht. Kalt und erbarmungslos. Das Telefon klingelte und eine für Jonas bekannte Frauenstimme erklang niedergeschlagen und ernst am anderen Ende des Hörers: „Jonas?“

„Ja.“

„Hier ist Sabine.“

Am Klang ihrer Stimme wusste Jonas, welche Stunde nun geschlagen hatte. Sabine war die Haushaltshilfe seiner Großmutter.

„Es tut mir leid, aber deine Oma ist gestern Nacht verstorben. Als ich heute morgen an ihr Bett trat, ist sie einfach nicht aufgewacht,“ erklärte Sabine unter Tränen.

Deshalb stand Jonas nun vor der massiven Tür, vor dem Haus seiner Vergangenheit, wo er bis zum Umzug nach Berlin lebte. Nach dem tragischen Tod seiner Eltern kümmerten sich großherzig seine Großeltern um den achtjährigen Spross, die schon immer mit ihm das Heim teilten. Im unteren Geschoss wohnten Oma und Opa Coers und oben Jonas mit seinen Eltern. Jonas hatte schon immer eine enge Beziehung zu seinen Großeltern, so war es für ihn eine Frage der Ehre fürs Studium zu pendeln als sein Opa einen Schlaganfall erlitt und dadurch handlungsunfähig wurde und auch nach dem Studium nicht auszuziehen um seiner Oma bei der Pflege ihres Mannes zu unterstützen. Doch nach dem sein Opa gestorben war, verlangte seine Oma von Jonas, dass er sich nun um sein Leben kümmern müsse, denn sonst würde sie sich die größten Vorwürfe machen, da sie glaubte, dass sie die Perspektiven ihres so begabten Enkels verbaute. Dass Jonas wenige Monate später nach Berlin zog und seine berufliche Karriere aufgab um erfolgloser Schriftsteller zu sein, konnte sie nicht ahnen und Jonas ließ sie in dem Glauben, dass er dort einem geregelten Job mit einem festen Gehalt und einer sicheren Zukunft nachging.

Sabine fiel ihm unter Tränen in die Arme.

„Sie war so kalt, obwohl doch die Heizung auf sechs gestellt war.“

Bei einer Tasse Kaffee berichtete Sabine Jonas noch einmal wie sie seine Großmutter auffand, was der Notarzt sagte und welches Bestattungsunternehmen beauftragt wurde. Jonas wusste, dass nun eine Menge Arbeit auf ihn zukommen würde, die Beerdigung, das Grab, die Haushaltsauflösung und nicht zuletzt das Erbe. Also würde er notgedrungen noch eine Weile in seiner Heimat bleiben müssen. Er war es seiner Oma schließlich schuldig.

Aus „Fehldeutungen eines Missverstandenen“ unveröffentlichter Text von Timo Quante 2009