Als Erstes

Wieder irgendwelche Drohnen. Diesmal ne Hauptstadt. Und ein Krankenhaus war auch dabei. 12 Tote. Irgendwie gering. Ich denke dann immer an Dresden, Hamburg, Berlin. Da waren es immer gleich mehrere Tausende. Ist es die Präzision der heutigen Waffen?

Aber 12 ist auch schlimm. Ist auch Verschwendung. Sind auch welche, die nicht mehr da sind. Die irgendwer vermisst.

Die Frau im Interview vermisst jemanden. Ihren Sohn. Der war da im Krankenhaus. Irgendeine Kinderkrankheit. Die werden da nicht konkret.

Ist jetzt auch nicht wichtig. Das Kind ist weg. Für immer. Die Mutter heult. Für immer. Das steckt man nicht weg. Die Tränen bleiben für immer. Erst sichtbar. Dann unsichtbar. Für immer.

Irgendeine Werbung. Gelegenheit für mich, mein Müsli reinzuschaufeln. Zu süß. Die sind immer zu süß. Vor allem durch diesen Zuckerersatz. Aber das soll ich essen. Sonst falle ich vom Fleisch. Und wer weiß, wann ich wieder etwas zu essen bekomme.

„Bist ja immer noch da,“ wirft mir Marie vor. Die sieht schon aus wie geleckt. Hat diese Pumps an. Halterlose. Stiftrock. Ne Bluse.

„Du ja auch.“

„Ich fang auch erst in einer Stunde an.“

„Und ich auch erst in 20 Minuten.“

Ich grinse sie an. Da müssen Haferflocken an meinen Zähnen kleben. Marie starrt darauf. Ich belecke die Schneidezähne. Und da klebt tatsächlich etwas.

Marie küsst mich auf die Stirn.

„Beile dich wirklich mal. Wir brauchen beide Jobs.“

Noch kurzes Tippeln. Dann verlässt sie die Wohnung. Ich atme kurz ein. Dann aus. Dann schalte ich nen Gang höher. Alles eingepackt und aufs Fahrrad. Noch mal ein paar Gänge höher. Dann vor der Agentur.

„Wo warst du denn?“ will Tilo wissen. Ist mein Boss. Also auf dem Papier. Hat so diese modernen Ansätze. Mehr Freund oder großer Bruder als Chef. Mein Vater hätte keinen Respekt vor ihm. Alle anderen auch nicht. Lächerliche Welt.

„Du meinst?“

„Den Termin. Absprache mit allen jede zweiten Dienstag.“

„Mist. Ganz vergessen. Sorry. Kommt nicht mehr vor.“

„Hoffe ich doch.“

„Habe ich was verpasst?“

„Nein.“

Man verpasst mehr, wenn man an so nem Termin teilnimmt. Lebenszeit und die Möglichkeit zu arbeiten.

Ich lasse Tilo im Flur stehen. Ich gehe in mein Büro. Das ist nackt. Da hängen keine Bilder oder Whiteboards. Nur zwei Monitore und ne Dockingstation auf nem Schreibtisch. Davor nen Bürostuhl. Weiß auch nicht, warum wir hier zweimal die Woche aufkreuzen sollen. Ist ja sowieso nicht jeder da.

„Kennst du noch Martin?“ will Sara wissen. Die steht einfach in meiner Tür.

„Martin?“

„Mit dem sind wir zusammen zur Schule gegangen,“ hilft sie mir auf die Sprünge. Sara und ich kennen uns tatsächlich schon Ewigkeiten. Gemeinsam zur Schule bis zum Abitur. Dann kurze Pause wegen Uni und mehreren Jobs und jetzt wieder hier in der Agentur zusammen. Sind bestimmt auch schon wieder 4 gemeinsame Jahre.  

„Macht Klick,“ meine ich.

„Dann lass uns mal nen Kaffee holen. Den brauchst du.“

Das Büro ist wie ausgestorben. Sind tatsächlich nur Tilo, Sara und ich da. Der Rest ist im mobilen Arbeiten. Noch. Die Zeiten ändern sich. Sara stellt Becher unter den Vollautomaten. Das duftet schon toll.

„Martin,“ bringe ich Sara zum Thema.

„Der ist zurück.“

„War der weg?“

„Ja! Wo lebst du denn?“

„Hinterm Mond. Wo war er denn?“

„Weißt du das echt nicht?“ will Sara wissen. Ich komme mir wieder blöde vor.

„Beim IS.“

„Den gibt’s noch?“

„Ja klar und der soll richtig fertig aussehen.“

„Warum ist der zurück?“

„Hat da wohl nicht mehr so hinter gestanden.“

„Und das kann man einfach so?“

„Natürlich nicht. Musste fliehen. Das zeigen die wohl auch im Fernsehen.“

„Live?“

„Ne, nacherzählt. Soll heute Abend in der Mediathek zu sehen sein.“

„Krass.“

„Ja, und wir saßen neben dem.“

„Wirklich krass,“ wiederhole ich. Ich stelle mir Martin als Kämpfer vor. Irgendwie mit ner Kalaschnikow und dann wie er vor Drohnen flüchtet. Selbstgemachtes Leid. Den hat ja niemand dahin gezwungen. Der war aus freien Stücken da. Soll ich Mitleid haben? Sara erwartet irgendetwas von mir. Das ich weiter darüber rede. Das ich sie frage. Sie hat ja niemanden. Sie ist Single. Aber ich kann die Lücke nicht füllen. Ich habe Marie. Ich will Marie. Da ist kein Platz für Sara. Und ich will Marie auch nicht durch Sara ersetzen.

„Ich muss nen Termin vorbereiten,“ lüge ich. Ich lasse Sara allein mit dem Kaffee und dem IS. Ich checke Emails. Rundmails. Aktuelle Kennzahlen. Aktuelle Mitteilungen. Kurven, Tendenzen, Ziele. Langeweile.

Smartphone raus. Da ist schon was los. Bei Insta sowieso, aber besonders bei WhatsApp. In der Bad-Boys-for-Life Gruppe. Haben wir seit Jahren. Wir sind die Jungs. Die vielen Jungs. Sind bestimmt über 14 da drinnen. Und heute ist es hart. Die sind sentimental. Christian muss weg. Finden viele ungerecht. Wollen viele nicht. Christian steckt es weg. Es ist sein Job. Er ist verdammter Soldat. Er arbeitet als so einer. Schon immer. War doch klar, dass die richtigen Soldaten als erstes müssen. Als erstes. Macht mir Angst.

„Beim IS.“

„Den gibt’s noch?“

„Ja klar und der soll richtig fertig aussehen.“

„Warum ist der zurück?“

„Hat da wohl nicht mehr so hinter gestanden.“

„Und das kann man einfach so?“

„Natürlich nicht. Musste fliehen. Das zeigen die wohl auch im Fernsehen.“

„Live?“

„Ne, nacherzählt. Soll heute Abend in der Mediathek zu sehen sein.“

„Krass.“

„Ja, und wir saßen neben dem.“

„Wirklich krass,“ wiederhole ich. Ich stelle mir Martin als Kämpfer vor. Irgendwie mit ner Kalaschnikow und dann wie er vor Drohnen flüchtet. Selbstgemachtes Leid. Den hat ja niemand dahin gezwungen. Der war aus freien Stücken da. Soll ich Mitleid haben? Sara erwartet irgendetwas von mir. Das ich weiter darüber rede. Das ich sie frage. Sie hat ja niemanden. Sie ist Single. Aber ich kann die Lücke nicht füllen. Ich habe Marie. Ich will Marie. Da ist kein Platz für Sara. Und ich will Marie auch nicht durch Sara ersetzen.

„Ich muss nen Termin vorbereiten,“ lüge ich. Ich lasse Sara allein mit dem Kaffee und dem IS. Ich checke Emails. Rundmails. Aktuelle Kennzahlen. Aktuelle Mitteilungen. Kurven, Tendenzen, Ziele. Langeweile.

Smartphone raus. Da ist schon was los. Bei Insta sowieso, aber besonders bei WhatsApp. In der Bad-Boys-for-Life Gruppe. Haben wir seit Jahren. Wir sind die Jungs. Die vielen Jungs. Sind bestimmt über 14 da drinnen. Und heute ist es hart. Die sind sentimental. Christian muss weg. Finden viele ungerecht. Wollen viele nicht. Christian steckt es weg. Es ist sein Job. Er ist verdammter Soldat. Er arbeitet als so einer. Schon immer. War doch klar, dass die richtigen Soldaten als erstes müssen. Als erstes. Macht mir Angst.

Als Zweites

„Heute lassen wir es krachen. So richtig. So wie in diesen scheiß Filmen,“ befiehlt Sonja. Sie führt uns an. Das wird sie auch, wenn wir da sind. Mit diesen ganzen Rängen und Abzeichen tue ich mich immer noch schwer. War von jeher so. Mochte ich nicht beim Fußball, bei der Arbeit und jetzt nicht bei der Armee. Macht es mir das schwerer? Keine Ahnung. Ich höre einfach auf jeden, der mir was sagt. Macht mein Leben in jedem Fall einfacher. Damit habe ich ne Regel. Andere würden sagen Prinzip. Ein Prinzip der Verantwortungslosigkeit. Ich bin nur ein ausführenden Organ. Werkzeug von irgendjemanden.

Über Klamotten oder Haare machen wir uns keine Gedanken. Wir gehen in Uniform. Auf dem Kopf dieses Hütchen. Sieht aus wie ein Schiff. Macht das Gesicht so lang. Fand meine Mama beim letzten Besuch so hübsch. Ich würde sie an Opa auf dem Foto von früherer erinnern. Macht mir irgendwie Angst. Opa dachte auch, er würde für das Richtige sein Leben riskieren. Er lag falsch. Der Kater danach war so furchtbar, dass ich nie über die Nazis mit ihm sprechen konnte. Geschweige denn vom Krieg und was er da so angestellt hatte.

Heute kann ich nicht mit damals vergleichen. Da ging es um Größenwahn. Da ging es um ein abscheuliches Menschenbild. Um Herrenrasse.

Heute geht’s um Werte. Um Freiheit. Darum, dass die uns bedrohen. Das die unsere Freiheit nehmen wollen. Darum, dass die den Frieden bedrohen. Deshalb kämpfen wir. Oder müssen wir. Ne andere Wahl habe ich nicht gehabt.

„Die erste Runde geht auf mich!“ brüllt Sonja als wir in diesem heruntergekommenen Pub sind.

Da wird Tequila eingeschenkt. Zitronen zerteilt und Salzstreuer verteilt. Wir haben alle einen in der Hand. Sonja brüllt etwas. Alle brüllen etwas darauf. Dann ziehen wir den Tequila weg. Es brennt. Der ist zu warm. Der ist zu billig. Keine Ahnung warum von uns gerade Tequila der Schnaps geworden ist. Ich finde den scheiße. Ich war schon immer mehr für Jägermeister. Pech gehabt.

„Das erste Bier geht aufs Haus,“ ruft jemand hinter der Theke. Wieder brüllt Sonja. Wieder brüllen wir. Wir grinsen.

„Erst Schule, dann Arbeit und jetzt an die Front. Wir haben schon Schlachten geschlagen,“ sagt Sara. Sie nimmt mich in den Arm. Sie freut sich darüber. Ich kann nicht richtig grinsen.

„Und du? Hast du Angst? Oder zu viel Ich?“ fragt Sara.

„Wegen Marie. Und dem Kleinen.“

Sara nimmt mich in den Arm. Sie antwortet mir nicht. Ich weiß, dass sie weiß, dass es eine beschissene Zeit fürs Kinderkriegen ist. Aber sucht man sich so etwas aus?

Ja, Pille abgesetzt und darüber gesprochen. Aber habe ich damit gerechnet, dass es so schnell geht?

Nein. Und jetzt habe ich den Salat. Ich weiß nicht, ob ich zur Geburt da bin oder mir Kugeln um die Ohren fliegen. Verdammt.

„Heute zählt das nicht. Heute zählt der Augenblick,“ sagt Sara. Sie schaut mich an. Tief in die Augen. Sie setzt das Bier an. Sie zieht es weg. Ich mache es ihr nach. Der Alkohol wirkt. Alles ist nicht mehr so schwer.

Irgendein Sänger baut gerade auf. Er holt eine Gitarre aus seinem Koffer. Dann legt er los.

„Sweet Home Alabama,“ singt er. Dazu wackelt er mit seiner rotgefärbten Mähne. Meine Heimat ist zwar nicht Alabama, aber ich werde sie vermissen. Mit allem, was da so drin ist. Mit Marie, mit Mama, mit der Agentur und auch Tilo, mit dem Einkaufszentrum, dem Basketballplatz, dem Wald. Mit einfach allem.

Tequila folgt auf Tequila. Alle tanzen. Alle schreien. Sara starrt mich an.

„Ich könnte jeden aus unserer Truppe haben. Aber den, den ich will, den kriege ich nicht,“ lallt sie.

„Sara, Liebste,“ meine ich. Ich lächle ihr zu. Wir kennen die Situation. Die spielt sich immer ab, wenn sie voll ist.

„Heute kein Sara-Liebste. Heute versprichst du mir, dass an der Front andere Regeln gelten. Wie dieser Spruch mit den Postleitzahlen.“

„Postleitzahlen?“

„Was in einer anderen Postleitzahl passiert ist kein betrügen.“

„Was für ein dämlicher Spruch,“ sage ich. Ich sehe Saras Lippen auf mich zukommen. Doch dann schlägt mir jemand auf die Schulter. Zeigt mir sein Handy. Darauf die Bad-Boys-for-Life Gruppe. Patrick schreibt da, dass sein Bruder gefallen ist. Erst will ich lachen, weil Christian tatsächlich häufiger gestolpert ist als alle anderen, die ich kenne. Dann weiß ich, dass sich die Bedeutung des Worts geändert. Christian ist tot.

Als Letztes

„Ich jetzt? Auf Deutschland? Jeden Tag?“ will ich wissen.

„Ja, du liebst doch dein Vaterland?“ meint Sonja.

Es knistert. Da ist ne Spannung in der Luft. Ich spüre das. Die geht entscheidend von mir aus. Weil ich mich verweigern will. Weil ich das alles nicht so verstehe. Befehle ausführen: Okay. Aber Bullshit? Also so richtigen Bullshit. So nen Eid auf nen Land? Auf ein Konstrukt? Boah. Eigentlich Ne.

Sonja wartet. Sonja muss eine Antwort haben. Sonst muss sie handeln. Sie muss. Das erwarten auch die anderen. Die schauen mich auch an. Die gesamte Truppe. Und auch Sara.

„Ja. Ich liebe mein Vaterland.“

Ich könnte laut loslachen. Weil ich an einen Vater denken muss. An meinen. Der hat mit Land und Arbeit und Kampf so wenig zu tun wie ein Schlachter mit Veganismus.

Aber ich könnte auch weinen. Weil es zum heulen ist. Weil ich mich genötigt fühle. Weil ich etwas machen musste, was ich nicht wollte. So aus tiefsten Herzen. Und es fühlt sich an, als wäre es nur der Anfang von sehr vielen Taten, die ich nicht will, aber machen muss.

Sonja tritt ab. Sonja lässt und allein.

„Deshalb sind wir hier. Wegen nichts anderem. Wegen der Freiheit,“ meint da jemand.

„Wegen der Freiheit von unserem Land.“

„Von unserem Deutschland.“

„Jawohl.“

Das ist wie ne Zeitreise. Aber nicht wie von Bill und Ted. Wie so ne schlechte.

Ich will raus. Ich gehe raus aus dem Zeltlager. Sara folgt mir in die Hitze. Sie greift nach meiner Hand. Ich lasse sie meine halten.

„So schwer?“ will sie wissen.

Ich umarme sie. Ich drücke sie irgendwohin. Verschiebe uns in so einen olivgrünen Wagen. Hinten auf die Ladefläche. Zwischen allerlei Gerät. Seile. Tragen. Werkzeug. Dann küsse ich sie. Eigentlich Marie. Weil ich bei ihr sein will. Aber Marie nicht da ist. Und ich jemanden brauche. Jemanden spüren will. Und ich spüre Sara jetzt. Und es gefällt uns. Dann sind wir fertig. Ich weine. Sie umarmt mich.

„Es ist ja gut,“ sagt sie.

Dann sind da Sirenen. Dann Schreie. Wir rücken die Kleidung zurecht. Etwas in mir lässt mich funktionieren. Es ist das Erlernte der vergangenen Monate. Das ist wie so ein Virus im Kopf. Das steuert mich. Schnell zu den anderen. Schnell an die Waffe. Und Sonja brüllt etwas. Sie sind da. Ganz nahe. Und wir hören etwas Lautes. Nen Knall. So dicht. Ich kacke mir in die Hose. Und es knallt und zischt weiter. Ohne Unterbrechung. Und wir laufen los. Und alle schreien und alles ist so laut.

Und wir laufen auf etwas zu. Auf andere Menschen. Und die laufen auf uns zu und sind dann verschwunden. Und es kommt etwas von oben. Und es wirft mich weg. Und ich sehe Sara. Zweigeteilt. Einmal in der Mitte durch. Die ist nicht mehr. Und ich sehe mich. Da fehlt ein Bein. Und ein Arm. Und da ist so viel Blut. So viel Blut und Schmerzen. Nichts ist gut. Nie mehr.