So Zahlen

Irgendwie niedlich. Aber schon so verdammt alt. Will ich das? Will ich so nen niedlichen alten Sack? Was suche ich denn überhaupt? Schutz? Vor der Welt? Vor ihm? Boah.

„Saskia, wo bist du überhaupt schon wieder?“

„Ich? Ganz bei der Sache.“

„Lass die Arbeit mal Arbeit sein. Heute geht’s nur um dich. Du hast Geburtstag.“

„Morgen.“
„Ja, und heute feiern wir rein,“ meint Lea.

Nora taumelt schon: Die gibt sich immer gleich richtig viel. War schon immer so. Und jetzt, wo sie Mama ist, übertreibt sie immer gleich sofort.

„Wenn Nora das Abteil vollkotzt,“ warne ich.

„Saskia, die Oberlehrerin. Warum biste nicht das geworden?“ meint Anna.

„Bringt zu wenig Kohle,“ fügt Lea an. Die beiden lachen. Nora kippt um. Sie fällt auf nen älteren Herrn. Der will sich erst aufregen. Erkennt aber, dass er ne niedliche 30jährige auf dem Schoss sitzen hat.

„Alles gut?“ fragt er. So alt ist er gar nicht. Vielleicht Anfang fünfzig. Kaum 10 Jahre mehr als dieser Vincent. Vincent Pander. Der Name will mir nicht aus dem Kopf. Und auch nicht dieser Typ. Warum? Der hat sogar ein Kind. Der verdient nicht schlecht. Aber weniger als ich. Und der ist alt. Aber…

Was aber?

Kein Aber. Ich habe Dominik. Ich habe mein Pferd. Ich habe die Kanzlei. Ich brauche nicht träumen. Ich habe schon alles. Und vor allem nicht so einen alten Sack. Ich benehme mich ja fast wie mit 14.

Wir sind in Düsseldorf. Alle haben schon einen intus. Auch mir fällt das Denken schwer. Aber alles andere ist so leicht. Weht so dahin. Ist so problemlos.

„War ne Überraschung, nicht?“ meint Anna als wir uns im Zimmer fertig machen.

„Zu gutes Hotel.“

„Du hast auch immer etwas auszusetzen.“

„Für Party hätte auch ein Hostel gereicht.“

„Morgen gibt’s noch Wellness,“ sagt Anna. Sie singt Wellness fast. Die mag das. Die würde gern jedes Wochenende ins Spa. Fährt die voll drauf ab.

Dauert nicht lang und Nora und Lea holen uns ab. Nora geht’s etwas besser.

„Hab gekotzt. Jetzt passt wieder was rein,“ meint Nora.

„Und geschissen. Ich dachte, ich sterbe,“ sagt Lea.

Nora lacht. Anna packt die Story aus New York aus. Da Nora tatsächlich so einen abgeseilt hatte, dass sich Lea übergeben musste.

Lea köpft nen Sekt. Wir schlucken. Dann sind wir an der längsten Theke der Welt. So ein paar Ärzte quatschen uns voll. Natürlich keine Echten. So Typen von nem Junggesellenabschied. Die verkaufen Schnaps aus Spritzen.

„Wer weiß, was ihr da drin habt,“ warne ich.

„Nur das Beste,“ sagt einer. Er zeigt mir Kirschlikör.

„Könnt mir ja alles erzählen,“ werfe ich ein.

„Scheiß egal. Ich nehme 8 Spritzen,“ meint Nora. Sie zahlt. Einer drückt eine Spritze bei ihr in den Mund. Die anderen nehmen wir so. Die Jungs verschwinden. Wir drücken uns den Schnaps in den Mund.

„Du wieder. Bist auch manchmal ne Spaßbremse,“ meint Lea.

„Nur vorsichtig.“

Günstiger Schnaps von Junggesellen. Viele Alt in den Bars. Wir sitzen irgendwo bei nem Cocktail. Die Mädels zählen runter. Mein Geburtstag. Ich bin wieder klarer. Ich wechsle zu Wasser.

Dann sind wir in so nem Club. Minimalistischer Techno. Lea und Nora feiern es. Anna quatscht mit Jungs. Mit richtigen Jungs. Sind bestimmt Studienanfänger.

„Jona,“ stellt sich mir einer vor. Hat noch so ein richtiges sauberes Gesicht. So makellos. So wie ich auch mal aussah.

„Hab heute Geburtstag,“ sage ich. Irgendwie finde ich den lecker. Irgendwie ist der anders als dieser Vincent. Dieser Alte. Und als Dominik sowieso.

„Ich weiß, vielleicht bin ich ja dein Geschenk,“ sagt er und grinst.

„Vielleicht?“

Ich fackle nicht lang. Ich tanze kurz mit ihm ganz eng. Dann drücke ich ihn in eine Ecke. Ich küsse ihn. Ich lasse ihn mich berühren. Der ist noch zahm. Der weiß noch nicht, wie er sich verhalten will. Der macht noch, was er darf.

„Wie alt bist denn du?“

„19.“

Ich küsse ihn weiter. Ich mache mit nem Teen rum.

Hasse das

„Saskia, Herr Fuß ist da,“ sagt Kathrin.

Keinen Bock auf den. Keine Lust auf irgendetwas. Vor allem nicht auf Arbeit. Will mich verkriechen. So ganz tief. Wie so ein Kaninchen. Ab in den Bau. Oder wie Alice. Und dann einfach in so einer abgedrehten Welt leben. Dann weiß ich, dass das alles Nonsens ist. Aber so? Ich suche nach dem Sinn. Stolpere über leere Weisheiten wie der Sinn des Lebens ist es dem Leben Sinn zu geben. Wer sich das ausgedacht hat, gehört gesteinigt. Da ist kein Sinn. Nur Trieb.

Und mein Trieb ist Wohlstand. Deshalb gleich dieser Herr Fuß. Mit seinen Lappalien. Kleinigkeiten. Alles so first World Problem. Und ich bin Teil davon.

Herr Fuß sitzt vor mir. Der ist schon wieder so weinerlich. Der erinnert mich an Dominik. An meinen Dominik, den ich betrogen habe. Betrogen? Ich habe nur mit jemanden geknutscht. Betrug ist was anderes. Und was bedeutet überhaupt betrügen?

Herr Fuß redet auch über Betrug. Er fühlt sich immer betrogen. Mal wegen seiner Frau, dann wegen seiner Kinder, den Kunden, der Polizei und das Leben. Dabei betrügt er selbst. Sich selbst und alle anderen. Ne riesige Betrugsmasche. Aber auch hier: Das spielen wir alle. Sind Opfer und Täter zu gleich.

Nur dieser Vincent. Der war anders. Was der wohl macht?

Herr Fuß verschwindet. Ich brauche Luft. Und irgendwie Entspannung. Ich greife in die Schublade. Zur Schachtel Marlboro. Doofe Angewohnheit. Aber ich hab es im Griff. Maximal zwei Zigaretten bei der Arbeit. Und nur bei Stress.

Ich stelle mich vors Gebäude. Ich starre auf das Eingangsschild. Mein Name. Meine Kanzlei. Und das mit 30. Das soll mir jemand nachmachen. Klar, ist ne winzige Stadt. Klar, ich habe die Kanzlei von Papa übernommen. Aber klar ist auch, dass ich gut bin.

Auf der anderen Straßenseite läuft jemand. Der schaut direkt zu mir. Das ist er. Das ist Vincent. Der läuft hier. Und ich rauche hier. Der raucht bestimmt nicht. Ich schnippe die Kippe weg. Hoffentlich hat der das nicht gesehen. Er lächelt. Weil er mich auf frischer Tat ertappt hat?

Ich lächle zurück. Er legt seine Hand auf seine Brust. Was auch immer das bedeuten mag. Er lächelt weiter. Er läuft weiter. An mir vorbei. Der dreht sich noch einmal um. Er sieht, wie meine Blicke ihn verfolgen. Für nen Alten ganz schön guten Körper. Könnte sich Dominik ne Scheibe von abschneiden.

Vincent dreht sich noch einmal zu mir um. Und Fuck. Da kommt so ein schwarzer E-Wagen. Sieht aus wie ein Bauklotz oder Panzer. Vincent hat den nicht gehört und nicht gesehen. Der liegt jetzt auf der Motorhaube. Ich will hinrennen. Aber Vincent steht schon wieder. Der läuft einfach weiter als wäre nichts gewesen. Glück gehabt. Der in der Elektro-Karre konnte noch rechtzeitig bremsen oder der Assistent. Technik, die Menschen rettet.

Vincent in dunklen Laufsachen trägt mich durch den Tag. Bin irgendwie ganz durcheinander. Ganz erregt. Es juckt. Habe Lust auf Sex. Denke kurz nach, es mir selbst zu machen. Aber blöde Arbeit. Hier bin ich nicht allein. Nie. Bin die Chefin. Ich hasse das. Nicht wegen meiner Lust. Wegen dieser mangelnden Ruhe.

Dann zu Hause. Wieder nicht allein. Da lümmelt Dominik auf dem Sofa. Der schaut irgendwas auf Netflix. Der macht auf Pause.

„Wie war dein Tag?“ will er wissen.

„Wie immer.“

„Meiner war die Hölle. Die verstehen das einfach nicht. Besonders mein Chef nicht. Das würde uns so weiterbringen. Und dann auch noch die Juli. Die spielt sich immer so auf. Alles ist doof und alle sind blöd. Dabei ist sie doch selbst das Problem. Und dann diese neuen Richtlinien. Ich verstehe da nur Bahnhof. Die da oben kommen immer auf neue Ideen um das Unternehmen zu verschlimmbessern….“

„Dominik,“ unterbreche ich ihn.

„Ja, ich weiß. Aber das macht einen echten fertig. Du hast gut reden. Du bist dein eigener Boss…“

„Dominik, am Wochenende. Bei meinem Geburtstag mit den Mädels. In Düsseldorf. Da habe ich mit jemanden geknutscht.“

„Du hast mit einem gefickt?“

„Nur geknutscht.“

„An deinem Geburtstag?“

„Ich war betrunken.“

„Und danach hast du mich geküsst?“

Dominik weint jetzt. Dem laufen die Tränen über die Wange. So viel Wasser habe ich noch nie aus jemanden herauslaufen sehen. Trocknet der jetzt aus?

„Du hast mich betrogen!“ heult der. Der wiederholt das immer wieder. Dabei weint der weiter. Ich hasse das. Das ist übertrieben. Das ist peinlich. Das ist würdelos.

„Ich will, dass du gehst. Sofort,“ beschließe ich.

Dominik unterbricht seine selbstmitleidige Darbietung. Der schaut mich an, als würde ich Esperanto sprechen.

„Meine ich ernst,“ sage ich. Dann gehe ich ins Bad. Ich stelle seine Zahnbürste, das Parfüm und seine Haargel vor die Tür. Die schließe ich dann ab. Ich Dusche. Ich besorge es mir darunter. Ich denke an diesen Vincent.

Alle doof

„Der ist wirklich krass,“ meint Anna.

Finde ich gar nicht. Finde den weinerlich. Finde den übertrieben. Finde seine Stories so ohne Gewinn. Könnte ich auch. Aber keine Zeit. So wie ich keine Zeit zum Lesen habe. Gibt Wichtigeres. Schon immer.

„Und Anna lässt sich von dem flach legen,“ meine ich.

„Nicht so laut. Vielleicht ist seine Frau hier,“ entgegnet mir Anna. Sie hat mal wieder eine Affäre. Sie glaubt mal wieder, dass er Mr. Right wäre. Für nichts in der Welt würde dieser Pseudo-Schreiber seine Alte für Anna verlassen. Anna ist ne Trophäe. Mehr nicht. Rafft sie nur nicht. Und wir dürfen dann wieder bei billigem Prosecco und schlechtem Filmen die Scherben aufsammeln.

Letzte Story von diesem Autoren. Irgendetwas mit Krieg. Was passieren wird, wenn wir das Kreuz am Sonntag an der falschen Stelle machen würden. Spiel mit der Angst. Das können die alle. Egal aus welcher politischen Ecke die kommen.

Gleich nach der Abmoderation dreht nen DJ die Regler hoch. Elektro. Die Party zur Veröffentlichung des Buches von diesem Autor startet. Ich hole mir nen Drink an der Bar.

„Ich wusste, dass du hier bist,“ sagt jemand. Ich kenne die Stimme. Aber die ist heute undeutlich. Besoffen.

Ich drehe mich zur Stimme. Es ist Vincent. Mein Herz pocht wie bei nem Teenager.

„Stalkst du mich etwa?“ scherze ich.

„Tatsächlich ja. Ich kann nicht anders.“

„Gruselig.“

Ich lache. Er nicht.

„Ich kann nicht anders. Ich werde auch mit ihr Schluss machen. Ist zwar blöd für das Kind. Aber ich will nur dich. Ich glaube… Nein, ich weiß, ich liebe dich.“

Der schaut mich jetzt erwartungsvoll an. Der will auch hören, dass ich ihn liebe. Verdammt. Der hat ne Macke. Entweder ist es seine Masche, um mich ins Bett zukriegen. Oder der hat nen richtigen Sprung in der Platte. Man verlässt doch nicht seine Familie für jemanden, den man nicht kennt. So bescheuert muss man mal sein.

Aber habe ich Dominik nicht auch wegen diesem Vincent vor die Tür gesetzt?

Ist mir auch alles zu viel. Ich exe meinen Drink. Ich verlasse die Location. Ich gehe. Irgendwohin. Der Vollmond lacht mich aus.

Wie kann ich nur so dumm sein. Nicht wegen Dominik. Der war eh ein Fehler. Sondern wegen diesem Vincent. Blöde Tagträume wegen einem Freak.

Hinter mir Schritte. Die sind schwer. Die steuern auf ein Ziel zu. Ich durchsuche meine Tasche. Pfefferspray. Ich halte es fest in meiner Hand.

Auf der Brücke über den Mittellandkanal bleibe ich stehen. Hier kann mich niemand ins Gebüsch ziehen. Die Schritte nähern sich. Ich drehe mich um. Es ist Vincent, der mich verfolgt.

„Warte. Du bist die Liebe meines Lebens. Wir gehören zusammen.“

Ich überlege, ob ich rennen soll. Das Pfefferspray gibt mir Sicherheit. Ich bleibe stehen.

„Sorry. Kein Interesse.“

„Noch nicht. Wie gehören zusammen. Du wirst sehen,“ meint Vincent.

Er steht jetzt unmittelbar vor mir. Er versucht mich zu berühren. Ich drücke ab. Ich gehe ein paar Schritte zurück. Vincent auch. Der hält sich die Augen. Dann stolpert er über das Geländer der Brücke. Kurz Stille. Ich höre kein Platschen. Stattdessen einen kurzen und dumpfen Aufprall.

Ich stürme zum Geländer. Ich schaue herunter. Da treibt niemand im Wasser. Da liegt jemand auf dem Weg neben dem Kanal.

Fuck. Was soll ich machen? Das war doch keine Notwehr! Oder doch? Der wollte mich doch angreifen! Mich vergewaltigen! Fuck. Was mache ich jetzt?

Ich haste die Brücke herunter zum Gehweg. Ich drehe mich um. Ich bin allein. Da liegt nur Vincent. Ich gehe auf ihn zu. Ganz langsam. Ganz vorsichtig. Der rührt sich nicht. Ich lausche. Ich höre nichts. Keine Atmung. Dann traue ich mich, ihn zu berühren. Nach seinen Puls zu fühlen. Nichts. Der ist nicht mehr. Der ist tot. Fuck. Ich habe den umgebracht. Fuck. Ich bin ne Mörderin. Fuck.

Vorm Vollmond ziehen sich Wolken. Es fängt an zu regnen. Ich rolle den Toten Richtung Wasser. Dann plumpst die Leiche in den Kanal. Es regnet stärker. Die Spuren verschwinden.

Ich starre noch ne Weile auf das Wasser. Eine Welt für eine Kippe.