Namenlos
„Echt? Das bist du? Ist doch irgendwie eklig? Oder?“ sie verzieht ihr ganzes Gesicht. Ihr Verstand ordnet das gerade ein. Vereinbart das mit ihren Werten. Das, was normal ist. Die Blicke mustern mich gerade wie so ein Scanner am Flughafen.
„Und da packst du jeden Tag Tote an? So mit deinen eigenen Händen?“
„Habe Handschuhe über.“
„Aber ist doch eklig. Die sind doch so kalt?“
„Wenn sie aus der Kühlung kommen.“
Sie wendet den Blick ihrem Martini zu. Sie stochert da rum. Schon anhand der Getränkewahl hätte ich es wissen müssen. Sie wird niemand für mich sein. Sie versteht das nicht.
Nicht schlimm. Nur wieder keine Nummer auf die ehrliche Art und Weise.
Ich gehe zu den Jungs.
„Wieder ne Abfuhr?“ will Marten wissen.
„Findet Tote eklig.“
„Augen auf bei der Berufswahl,“ meint Stefan.
Die haben beide gut reden. Sind beide in festen Händen. Stefan sogar verheiratet. So mit Kindern.
Und ich 35. Kinderlos. Bestatter. Und das nicht einmal selbstständig. Könnt ich mich wenigstens als Unternehmer vorstellen.
Wir saufen noch ein bisschen. Viel Tequila. Viel Bier. Dann verlassen wir das Pub. Ist auch zu voll. Die sind auch zu jung. Und ich bin zu geknickt.
So schließe ich auch die Tür auf. Und so quäle ich mich in den dritten Stock.
Im zweiten sitzt jemand. Ne Frau. Die weint. So mit richtigem Schluchzen.
„Was ist denn?“ frage ich. Irgendetwas muss ich sagen. Sie blockiert die ganze Treppe.
Die weint weiter. So als wäre ich nicht da. Als hätte sie mich nicht gehört.
„Was ist denn?“ wiederhole ich.
Keine Reaktion. Ich schaue sie an. Ich höre ihr beim Weinen zu. Wie so ein grässlicher Liebessong. Da weiß ich schon beim Zuhören, um was es hier geht.
„Du brauchst mir ja nicht zu antworten. Aber ich will da durch. Ich wohne da oben,“ werde ich bestimmender.
Weiter keine Regung. Nehme ich die jetzt einfach hoch? Hebe sie kurz an und setze sie irgendwo anders wieder ab? Ist das Belästigung?
Ich knie mich zu ihr herunter. Sie hat die Hände vor ihrem Gesicht. Die berühre ich vorsichtig. Ziehe sie weg von den Augen. Die sind voll rot. Die weint schon länger.
„Was? Wer bist du?“ fragt sie mich. Ihre Stimme zittert.
„Ich will da nach oben. Ich wohne dort,“ antworte ich.
Sie schaut mich an als hätte ich ihr gerade die Quantenphysik erklären wollen.
„Und du sitzt im Weg,“ erkläre ich.
„Oh, entschuldige,“ antwortet sie mir. Sie bewegt sich aber keinen Zentimeter. Sie weint einfach wieder.
„Hey, was ist denn los?“ versuche ich es noch einmal.
„Ich will da nicht mehr rein. Ich kann da nicht mehr rein,“ meint sie. Sie zeigt auf eine Tür.
Ich müsste raten, wer da wohnt. Die ziehen da andauernd ein und aus. Beständigkeit gibt es hier nicht. Keine Ahnung, ob die Kleine da wohnt oder nur zu Besuch ist.
„Brauchst du auch nicht.“
„Brauche ich nicht?“
„Zwingt dich doch keiner.“
„Aber ich will jetzt nicht allein sein.“
„Und ich will in meine Wohnung.“
„Nimm mich mit,“ fordert sie.
„Okay.“
Sie steht auf. Sie sieht gut aus. Sie hat so braune Haare bis kurz über die Ohren. Und so ganz reine Haut. Dazu braune Augen und ein paar Sommersprossen. Ist so eine Niedliche. Eine, die bis in alle Ewigkeit niedlich aussehen wird. Bestimmt damals als Kind und jetzt als Frau und dann als Oma.
Dann stehen wir vor meiner Tür. Ich schließe auf. Wir gehen rein.
„Ich störe dich nicht?“
„Nein,“ sage ich. Ich hole uns jeweils ne Flasche Bier. Die trinken wir auf dem Sofa.
„Willst du reden?“
„Nein. Nur nicht Alleinsein.“
Ich akzeptiere. Ich hole ihr und mir eine Decke. Sie zieht sich die gleich über die Ohren. Dann schläft sie ein. Ich beobachte sie noch etwas. Sie ist wirklich hübsch. Wie sie heißen mag?
Curry
Sie zittert. Und ist kreidebleich. Sieht schon fast aus wie ein Anfall.
„Hey, beruhige dich. Alles gut. Ich bin da,“ sage ich. Ich reiche ihr ein Glas Wasser. Ich führe es an ihre Lippen. Sie schluckt.
„Ich will da nicht rein.“
„Wo?“
„Zurück in die Wohnung.“
Ich überlege. Was mag da passiert sein? Sollte ich die Cops rufen?
„Was ist dein Plan?“ will ich wissen.
Sie schaut mich an wie ein Auto. Sie beginnt zu weinen. Aber tonlos und tränenlos. Sie verzieht das Gesicht zu einer Fratze.
„Du musst mich auch verstehen. Ich will dir ja helfen. Aber dazu muss ich mehr wissen.“
Sie reagiert nicht. Sie schaut irgendwohin. Ihr Blick verliert sich im nichts.
„Wohnst du da unten?“
„Ich will nicht zurück.“
„Gib mir deinen Schlüssel. Dann hole ich dir ein paar Sachen.“
Sie dreht ihren Kopf zu mir. Sie überlegt.
„Dann weißt du alles.“
„Dann kann ich dir helfen,“ stelle ich klar.
„Egal, was?“
Wieder so ne doofe Frage. Eine mit Konsequenz. Wo ich pokere. Habe ja keine Ahnung, was mich erwartet.
„Egal was.“
Sie zögert noch etwas. Dann gibt sie mir ihren Schlüssel.
„Bitte mein Handy. Und was Frisches zum Anziehen.“
„Okay. Und nicht verschwinden,“ entgegne ich ihr.
Zumindest weiß ich jetzt, wo sie wohnt. Da kann ich sie identifizieren. Selbst, wenn sie mir die Bude ausräumt.
Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Ich bin aufgeregt. Da geht mein Puls. Es riecht nach Curry in der Wohnung. So ein bisschen schon abgestanden. Auf dem Schrank im Flur liegt ein Smartphone. Hat rosa Sticker drauf. Wird von ihr sein. Ich stecke es ein. Ich gehe durch die Wohnung. Ist aufgeräumt. Da ist nichts Gruseliges. Nichts, was mir Angst macht. Ich gehe ins Schlafzimmer. Geht schnell. Ist ja wie bei mir aufgeteilt. Ist bestimmt im ganzen Block die gleiche Aufteilung. Bei jeder Dreizimmerwohnung. Laut Schrank lebt sie hier allein. Hier ist wirklich niemand. Ich schnappe mir etwas. Ne Hose. Ein Oberteil. Nen BH. Nen Slip. Und Socken. Und dann raus aus der Wohnung. Zurück in meiner.
Sie ist nicht im Wohnzimmer. Ist sie verschwunden?
„Hallo? Wo bist?“ rufe ich. Ich kenne ja nicht ihren Namen.
Ich gehe in mein Schlafzimmer. Da liegt sie. Splitternackt.
„Weil du so lieb zu mir bist,“ meint sie. Sie hat die Beine gespreizt.
„Bitte. Ziehe das an. Ich kenne nicht einmal deinen Namen.“
„Nenn mich wie du willst.“
Ich schaue sie an. Sie ist sehr schön. Nicht so schauspieler-schön. Auch nicht so Porno. So richtig schön. So wie gezeichnet. Gemalt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie eine Erscheinung.
„Bitte, ziehe dich an. Ich bin nicht so.“
„Wie bist du denn?“ fragt sie. Dann nimmt sie mir ihre Sachen aus der Hand. Vorsichtig. Sie ist nicht wütend, weil ich nicht will.
„Wie ich halt bin,“ sage ich.
„Wie du halt bist.“
Wir gehen zurück ins Wohnzimmer. Ich mache uns Kaffee. Ich setze mich zu ihr aufs Sofa.
„Da war nichts,“ verweise ich auf die harmlose Wohnung.
„Niemand?“ fragt sie. Sie hat wieder diesen panischen Blick.
„Nichts. Alles sauber. Hat nur nach Essen gerochen.
„Nach Essen? Ich habe nicht gekocht.“
„Habe ich mir vielleicht eingebildet.“
„Nein, die habe ich gehört. Die waren da und dann bin ich raus aus der Wohnung,“ sagt sie.
„Die?“
„Ja, die. Die kommen immer wieder. Die finden mich, um zu bleiben.“
Klingt sehr spanisch. Klingt als hätte die ne Schraube locker. Irgendetwas ist immer.
„Darf ich bleiben? Bei dir fühle ich mich sicher.“
„Ich muss morgen wieder arbeiten.“
„Ich komme mit,“ sagt sie und lächelt. Keine Ahnung, ob das ihr Ernst ist.
Und weg
„Wenn dich der Chef sieht,“ mahne ich.
„Selbst du wirst mich nicht bemerken.“
Dann verschwindet sie schon. Wo auch immer hin. Egal. Ich muss meine Arbeit machen. Nen Blick in den Kalender. Frau Mese. Angehörige. Verkaufsgespräch. Schon in einer halben Stunde.
Ich gehe in die Verkaufsräume. Stelle ein paar Urnen zusammen. Hole die Kataloge heraus. Die Meses sehen nicht arm und nicht reich aus. Da ist heute alles drin. Mal sehen. Das Gelogene an meinem Job.
Die kommen zu viert. Die haben alle andere Vorstellungen. Am Ende wird es nicht die teuerste Urne. Aber schon eine aus dem höheren Preissegment. Die haben sich nicht mit dem Tod befasst. Nicht gegoogelt, was das kostet. Finde die meisten pietätslos. Ich finde es bekloppt.
Zurück aus den Verkaufsräumen.
„Bist du noch da?“
Niemand antwortet mir. Vielleicht bin ich sie jetzt los.
„Mit wem redest du?“ fragt mich mein Kollege.
„Ah, bist da. Schönes Wochenende gehabt?“
Er antwortet mir nicht. Er zieht sich um. Er macht dann irgendeinen Witz. Ich lache mit. Anstand. Wir besprechen den Tag. Er bleibt im Institut. Ich mache die drei Urnenbeisetzungen am Waldfriedhof.
Endlich zurück im Institut. Irgendwie alles mechanisch. Konnte die Schönheit des Waldfriedhofs nicht genießen. Nicht die Stille. Heute war alles so aneinander. So im Takt. Vorgegeben. Fremdbestimmt.
„Bin weg. Krematorium hat die fünf abgeholt,“ meint mein Kollege.
„War irgendetwas?“ will ich wissen. Ich spiele auf die Kleine an.
„Nö.“
Sie hat sich wohl wirklich verabschiedet. Schon eigenartig. Hat bei mir gepennt und dann einfach weg. Einfach raus aus meinem Leben.
Ich nicke ihm zu. Er verschwindet. Ich trage etwas in Listen ein. Dann bin ich auch auf dem Weg nach Hause.
Da stehe ich noch kurz vor der Tür ihrer Wohnung. Überlege, ob ich klingele. Mache es dann nicht. Sitze in meiner Wohnung. Trinke dort ein Bier. Versuche dabei, sie zu riechen. Riecht ja immer anders, wenn jemand in der eigenen Wohnung war. Haben alle so unseren eigenen Geruch. Aber hier riecht nichts. Auch nicht an der Decke, die ich ihr gegeben hatte. Geruchlose Menschen. Soll es geben.
Mein Smartphone klingelt. Ist mein Chef.
„Wir haben ne Tote.“
„Ich komme.“
Werden oft aus dem Feierabend gerissen. Wir teilen uns da auf. Planen das penible jeden Monatsanfang. Damit wir in gleichen Anteilen dem Chef nach Feierabend zur Verfügung stehen. Geht ja auch gar nicht anders. Der Tod kennt keinen Feierabend.
„Ich komme zu dir.“
„Was?“
„Ist eine bei dir im Haus.“
Ich ziehe mich schnell um. Dann riskiere ich einen Blick das Treppenhaus hinunter. Da geht Polizei die Treppe herunter. Da schluchzt jemand laut. Dann sehe ich meinen Chef. Ich gehe ihm entgegen. Er nickt mir dann zu. Wir stehen vor einer Tür. Vor ihrer Tür.
„Hier?“
„Ja.“
Wir gehen hinein. Mir stockt der Atem. Es riecht immer noch nach Curry. So richtig abgestanden. Und dann sind wir im Wohnzimmer. Eine Polizistin schaut uns an. Meine Blicke suchen alles ab.
„Im Bad,“ sagt die Polizistin.
Da ist die Tür offen. Da ist alles nass. Mit Blut verfärbtes Wasser. In der Wanne. Vor der Wanne. Und in der Wanne liegt sie. Die Unbekannte. Die Niedliche. Die Geruchslose.
Die hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die ist tot. So richtig.
„Selbstmord?“
„Offensichtlich.“
„Wann?“
„Spielt das eine Rolle?“