Entmenschlicht

Gereizt beende ich das Gespräch. Die nervt mich auch mit jeder Kleinigkeit. Heute wegen dem Wochenende. Da wollen Jan und Laura kommen. Ein bisschen essen. Ein bisschen trinken. Und sich mal wieder austauschen. Da muss alles toll werden. Schließlich geben sich die beiden ja auch so viel Mühe. Und ob ich mich nicht erinnern könne, wie ich von Jans Essen vor zwei Monaten geschwärmt hatte.

Kann ich nicht. War wahrscheinlich auch gelogen. Ne Lüge geboren im Suff. Ich hasse solche Paarabende. Da wünsche ich mir Kinder. Da müsste ich mir so ne aufgesetzte Scheiße nicht antun. Aber Kinderwunsch ist ja nicht mehr salonfähig. Wegen der Verantwortung für die nächsten Generationen. Da dürfte man sich nicht noch weiter vermehren. Gibt ja schon zu viele von den weniger Privilegierten. Kotze.

Und ich bin auch nervös. So richtig sauer nervös. Und ich weiß auch warum. Ich benehme mich wie ein kleines Kind. Wie damals als ich in die fucking Kirche musste, obwohl ich lieber Fußballspielen wollte.

Aber meine Tante musste ja genau an dem Tag heiraten, wo dieser Scout vom VfL Wolfsburg bei uns auf dem Platz stand. Drei Jungs haben die tatsächlich zu sich in die E-Jugend geholt. Mike ist sogar Profi geworden. Spielte bis vor kurzem bei Köln. Danach kam nie wieder einer vom VfL vorbei. Ich wurde nicht entdeckt, weil ich meiner Tante beim Heiraten zusehen musste.

Und den Arsch hat sie bereits nach 2 Jahren wieder verlassen. Weil sie ihre Jugendliebe wiedergetroffen hatte.

Nehme ich ihr immer noch krumm. Aus mir wäre auch einer geworden. War nämlich besser als Mike. Da hätte ich jetzt meine Millionen auf dem Konto. Nicht so ne aufgesetzte, moralische Freundin. Nicht diesen Scheiß-Job im Autohaus. Fuck.

Ich öffne die Tür. Gleich habe ich diesen Geruch von Pisse und Desinfektionsmittel in der Nase. Meine Laune sinkt tiefer.

Und dann diese Gesichter. Ist ein Geisterhaus. Auf den Fluren schweben sie umher. Rollen mit ihren Rollatoren. Sind schon vergessen. Haben sich vergessen. Sind bereits tot und warten nur noch auf das Ende. Das macht mir Angst. Das will ich nicht.

Ich melde mich beim Pflegepersonal. Ein anderes Gespenst schaut mich an. Die Pflegerin. Ist so eine aus Osteuropa. Spricht mit Akzent. Die macht das hier nicht aus Freude. Die macht das hier, weil es mehr Kohle bringt als irgendwo. Ihr Opa und mein Opa haben sich vor nicht einmal 100 Jahren bekämpft. Beide wegen so beschissenen Diktatoren. Ob das noch zwischen uns steht?

„Können zur Mutter. Ist aber nichts gut.“

Ich nicke der zu. Was auch immer nichts gut bedeutet. Der Zustand meiner Mutter ist schon seit 5 Jahren nichts gut. Deshalb auch hier das Heim. Dachte eigentlich, wäre nur noch für maximal einen Monat. Dann würde sie loslassen. Aber denkste. Mama ist weiterhin da. Die ist zäh.

Ich öffne die Tür zu Mamas Zimmer. Dann verstehe ich nichts gut. Die ist heute ganz fahl und schmal. Das Gesicht ist eingefallen. Die Augen von schwarzen Ringen umrundet. Ich halte ihre Hand.

„Hier ist dein Sohn.“

Natürlich keine Antwort.

„Ich bin von der Arbeit gekommen. Am Wochenende treffen wir Freunde. Da soll ich noch einkaufen,“ berichte ich. Ich lasse die Namen aus. Sie kennt weder meiner Freundin, noch die Freunde. Der Tumor war vor ihnen da.

„Und bei dir so?“ frage ich.

Ich male mir aus, dass sie mir antwortet. Das sie mir davon erzählt, dass ein Pfleger in der Nacht vor ihr masturbiert hätte. Sich jemand anderes in der Nacht aus dem Fenster geworfen habe oder es ne Schlägerei beim Essen gab.

Ich lache. Über mich selbst. Was für ne kranke Vorstellungskraft.

Ich sehe Mama in die Augen. Prüfe, ob sie mir folgen können. Aber nichts. Was da drinnen ist? Ob da was drinnen ist? Laut den Ärzten genug, um sie am Leben zu halten. Oder es als Leben zu definieren.

Aber sie ist nen Haufen Fleisch. Existiert für die Zellen. Für das Dadrinnen. Sie ist die Hülle für anderes Leben. Mit nem Menschen hat das nicht mehr viel zu tun.

Ich will Whiskey. Ich will diese Gedanken ertränken. Ich will so nicht über meine Mama denken müssen. Sie darf kein Klumpen Fleisch sein. Sie darf nicht mehr nem Komposthaufen gleichen. Sie ist meine Mama.

Ich versuche mich an die Vergangenheit zu erinnern. Daran, wie Mama mal war. Wie wir zusammen waren. Aber es fällt mir schwer. Ganz schnell bin ich wieder an diesem Ostersonntag, wo sie beim Mittagessen einfach zusammengesackt ist. Wir den scheiß Arzt gerufen haben und sie danach einfach nicht mehr die war, die sie war. Als hätte man meine Mama daraus gezogen und durch nen Käfer ersetzt.

Ich wünschte, ich könnte den Käfer finden.

„Wir wollen Mutti sauber machen,“ schmeißt mich ne Pflegerin aus dem kafkaesken Gedanken.

Ich gebe Mama nen Kuss auf die Stirn. Dann verschwinde ich.

Ein Besucher

„Wer sind Sie denn?“ will ich wissen.

„Wer sind denn Sie?“

Der macht keine Anstalten. Der steht auch nicht auf. Der sitzt am Bett meiner Mama als wäre es das Natürlichste der Welt. Als würde er das bereits 100 Jahre so machen. Ich sehe, dass er ihre Hand hält. Sie sogar streichelt.

„Was fassen Sie meine Mama an. Lassen Sie das.“

Er dreht sich zu mir. Er schaut mich an.

„Unglaublich. Du bist Gabi wie aus dem Gesicht geschnitten,“ sagt er. Er sieht milde aus. Irgendwie gutgelaunt.

„Ich werde sauer. Ich rufe hier gleich das Personal.“

Ich kann sowieso nicht verstehen, warum man den hier reinlässt. Warum man mich darüber nicht unterrichtet hat. Was soll das?

„Ich habe es in der Zeitung gelesen.“

„Was?“

„Von deinem Alten. War klar, dass es so kommen musste.“

„Lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel.“

„Das war alles so abzusehen. Da brauchte es keine Glaskugel.“

„Was erzählen Sie da.“

„Das weißt du. Das will ich nicht aufwärmen.“

Ich weiß, was er meint. Mein Vater war ein Säufer. So ein richtiger Alki. Schon immer. Deshalb war ich fast nie zu Hause. Ich konnte den Alten nicht ertragen, wenn er im Suff seine Anfälle bekam. Ich konnte Mama nicht sehen, wie sie aus ihrer Opferrolle nicht ausbrechen konnte. Die beiden widerten mich an. Deshalb war ich immer weg. Immer. Deshalb kannten meine Freunde nicht mein Zimmer. Deshalb nahm ich nie Mädels mit. Deshalb bin ich gleich nach der Ausbildung weg von denen. Habe die für sich gelassen. Habe mir eingeredet, dass die beiden schon klarkommen würden.

Ich wusste, dass ich mich selbst belog. Das konnte ich jeden Feiertag, jeden Geburtstag miterleben. Wie er sie zur Schnecke machte. Wie sie weinte. Selbst vor Freunden und Familie. Gründe, warum ich saufen musste. Immer, wenn ich bei denen war. Deshalb war ich so selten da. Weil die mich immer saufen ließen. Und ich will nicht saufen. Ich will nicht der Alte sein.

„Hat sich zu Tode gesoffen. Kein Kunststück, dass vorherzusehen, wenn man ihn kannte.“

Ich hoffe zu erfahren, woher der ihn kannte. Aber der gibt mir keine Antwort. Der wendet sich einfach von mir ab und meiner Mama zu.

„Der sieht wirklich gut aus. Ist zum Glück wie du,“ flüstert der meiner Mama zu. Und kurz sieht es so aus als würde sie darüber lächeln. Aber dann wird ihr Gesicht wieder wie wachs. Schon fast tot. Erinnert mich an Lenin im Mausoleum.

„Jetzt rücken Sie schon mit der Sprache raus. Oder ich lasse sie rausschmeißen.“

Er schaut mich an. Er steht auf. Er küsst meine Mama tatsächlich auf die Stirn. Er schaut mich an. Dann verlässt er den Raum. Die Tür klickt.

„Was war das für einer? Ein Perverser? Hat dir der etwas angetan?“

Mama antwortet natürlich nicht. Ich befeuchte ein Taschentuch. Ich wische ihre Stirn frei von seiner Speichel.

„Oder hast du nen Verehrer? Gibt es da etwas, was ich wissen muss?“

Ich muss lachen. Ich habe mal nen Anflug von Humor. Die Seite kenne ich gar nicht an mir.

Es klopft an der Tür. Die geht dann auf. Pflegerin.

„Was war das für nen Mann?“ will ich wissen.

„Dachten, gehört zur Familie.“

„Der?“

„Sagt immer nett Bescheid, wenn hier. Wie Sie auch.“

„Und das reicht aus, damit man zu meiner Mutter kann?“

Ich schaue die beiden Pflegerinnen ernst an. Ich zweifle an deren Kompetenz. So kann ja tatsächlich jeder Perverser hier rein. 

„Tut uns leid. Haben wir nicht gewusst.“

„Jetzt wissen Sie es ja.“

Ich streichle die Wange meiner Mama. Dann verschwinde ich.

Vorm Heim wartet dieser Typ.

„Ich wollte dich nicht wütend machen.“

„Haben Sie aber. Jetzt lassen Sie mich und meine Mama in Ruhe. Sie haben ja selbst gesehen, wie es ihr geht.“

„Ja. Deshalb bin ich hier.“

„Wie?“

„Ich will meine Schulden begleichen.“

„Können Sie mal aufhören, in Rätseln zu sprechen.“

„Nicht jetzt.“

Ende

Wieder auf dem Friedhof. Fast allein. Meine Tante ist da. Mein Cousin. Welche aus Mamas Schulklasse. Welche von damals von der Arbeit. Alles in allem ein knappes Dutzend. Und sie war nicht alt. Aber die Menschen vergessen einen, wenn man krank ist. Die geben einen schneller auf als man denkt.

Ich bin da nicht anders. Meine Mama habe ich nur nicht aufgeben können, weil sie meine Mutter ist.

Aber was war mit Freunden? Was war mit Thomas als er nach nem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt war? Den habe ich einmal besucht. Dann habe ich es sein gelassen.

Und was ist mit Paula? Die ist nach nem Zeckenbiss ins Koma gefallen als sie aus Frankreich wiederkam. Ich war mit der zusammen. Faktisch haben wir nie Schluss gemacht. Faktisch führe ich mit der auch noch ne Beziehung.

Eileen drückt meine Hand. Sie merkt immer, wenn sich meine Gedanken um Müll kreisen. Alles vergangenen. Alles nicht der Rede wert. Die Gegenwart zählt. In der lässt ein Bestatter gerade die Urne ins Loch auf der grünen Wiese.

Ich werde hier nicht oft her. Nach dem Tod vom Alten bin ich jetzt auch erst das zweite Mal hier. Nicht einmal zu seinen Geburtstagen habe ich es hierher geschafft. Ich habe es mir nicht einmal vorgenommen. Einfach nicht an den Friedhof gedacht. Den Tod ausgesperrt. So einfach kann es gehen.

Die schütteln alle noch meine Hände. Ich lade die zu uns ein. Auf Kaffee und Zuckerkuchen. Sind ja nicht viele. Und wir können von Mama erzählen.

Eileen und ich verlassen den Friedhof als Letztes. An unserem Wagen steht ein Typ. Es ist der aus dem Pflegeheim.

„Was ist das für einer?“ will Eileen wissen.

„Lass mich mal mit dem allein,“ erkläre ich.

Ich deute dem Mann an, zu mir zukommen. Eileen verschwindet ins Auto. Ich gehe mit dem Mann um den Friedhof vorbei.

„Sie hat nicht gelitten,“ meint er.

„Was?“

„Sie hat keine Schmerzen verspürt.“

„Bei so vielen Schmerzmitteln auch kein Wunder.

„Nein, als ich es getan habe.“

„Was? Als Sie was getan haben?“ will ich wissen.

Ich bleibe jetzt stehen. Seine Worte drehen sich in meinem Kopf. Werden zu einer Geschichte. Werden zu Bildern. Ich sehe ihn mit einem Kissen meine Mutter ersticken.

„Als ich meine Schulden beglichen habe.“

„Sie haben meine Mutter getötet. Sie sind ein Mörder! Sie sind ein kaputter Typ. Machen Sie das immer? Suchen Sie sich Menschen aus, die halbtot sind, um Gott spielen zu können? Meinen Sie, Sie kommen damit durch? Ich werde zur Polizei.“

Ich bin aufgewühlt. Ich rege mich auf. Dabei glaube ich nicht an Gott.

„Es ist anders. Ich will es dir erklären. Höre mir zu.“

„Was soll da anders sein?“

Er hält mein Handgelenk fest. Ich beruhige mich.

„Ich habe ihr ein starkes Barbiturat verabreicht. Einfach in den Po gespritzt. Da schaut niemand mehr nach, wenn der Patient so dahinvegetiert wie Gabi.“

„Was erlauben Sie sich.“

„Ich kenne Gabi schon lang. Sehr lang.“

„Das rechtfertigt nicht, sie zu töten.“

„Sie hat mir auch mal geholfen. Ist schon lang her. Damals hat sie noch im Krankenhaus gearbeitet. Meine Frau war damals sehr krank. Sie konnte sich selbst nicht töten und ich habe es nicht übers Herz gebracht.“

„Sie wollen sagen, meine Mutter…Die soll Ihre Frau…?“

„Ja.“

Ich muss schlucken. Die Story ist weit drüber. Die Story ist weither. Es macht aber doch irgendwie Sinn. Mama hat im Krankenhaus gearbeitet. Mama hat sich oft über das Leid dort beklagt. Sterbehilfe war ein Thema.

„Ich habe ihr versprochen, da zu sein, wenn es bei ihr mal soweit sein sollte.“

„Und warum erst jetzt? Sie leidet bereits seit 5 Jahren.“

„Einiges dauert. Das tut mir leid.“

Ich schaue ihn an. Ich bin sprachlos.

„Ich wollte, dass du weißt, dass deine Mama nicht leiden wollte. Schon allein, weil sie dir nicht zur Last fallen wollte.“

Mehr sagt er nicht. Mehr gibt es auch nicht zu sagen. Er geht einfach weiter. Ich bleibe stehen. Ich schaue ihm noch hinterher. Dann verschwindet er irgendwo. Ich drehe mich um. Ich setze mich zu Eileen ins Auto. Sie küsst mich.